Freitag, September 29, 2006

Generalprobe


Na, wer ist dieser freundliche Opa mit Gewinnerlächeln? Wer hat aufgepasst? Wer kennt sich aus? Niemand? Mensch. Setzen, sechs. Das ist der SACEUR oder ausgeschrieben der Supreme Allied Commander Europe, oder anders der Chef der NATO – mehr oder weniger. Der Name ist Jones. General Jones – genauer General James L. Jones. Das hört sich nicht nur an, wie aus einem schlechten Tom Clancy Roman, er sieht auch so aus. Dieses Gesicht, an dem jeder Bildhauer seine rechte Freude hätte, zusammen mit dem beinahe sprichwörtlichen Kurzhaarschnitt der Marines. Dazu jene eng geschnittene Uniform mit all den Plastikauszeichnungen, die bei ihm die ungefähre Größe eines Frühstücksbrettchens haben. Kurzum, ein Modellsoldat, der von Vietnam bis Irak schon alles gesehen hat.

Ein netter Nebeneffekt beim Supergeneralsein ist, dass man Sicherheitsstufe 1 genießt. Das bedeutet schicke Panzerlimousinen und zugeschweißte oder wenigstens versiegelte Gullideckel, wohin man kommt. Noch schöner ist, dass alle Personen, in deren Nähe er gelangt, ordentlich kontrolliert werden – sollten. Ja, sollten. Denn ich stand heute etwa drei Meter vom Herrn General entfernt mit einer vollkommen unkontrollierten Fototasche. Ja was wäre denn jetzt gewesen wenn … tja … also ich schätze, dass ich etwa zwanzig Kilo einer Masse von Nutellakonsistenz darin unterbringen könnte. Welches TNT-Äquivalent eine ähnliche Menge Semtex hat, möchte ich gar nicht ausrechnen.

Ich erwähne das ja auch nur, weil ich, kurz nachdem ich eben unkontrolliert und –kontrollierbar in seiner Nähe war, beim Betreten des Veranstaltungszeltes etwa eine halbe Stunde auf die Sicherheitskontrolle warten musste, dann zehn Minuten gecheckt wurde und sogar ein Bild mit meiner Kamera machen musste, um ihre Echtheit zu beweisen. Dabei durften mich für längere Zeit mehrere Sicherheitskräfte richtig böse angucken und meine Fragen mit einem „Hinter der Linie warten!“ beantworten. Später dann nur bis auf fünfzehn Meter auf den Herrn General heran, aus - ihr habt es erraten – Sicherheitsgründen. Sehr schön.

Aber, liebe Sicherheitskräfte, wenn ihr schon so gründlich seit: Was haben uns Schuhbomber und Flüssigsprengstoffe der letzten Zeit gelehrt? Hm? Tja, da war ja nix mit Kontrolle. Kein Hund, der mich beschnuppern durfte und meine Objektive, die ja schöne Aufbewahrungsmittel für wasweißichwas wären blieben auch ungeprüft. Pseudosicherheit und dann das Maul aufreißen. So ist’s recht. Also. Das muss morgen besser werden. Ich möchte dann bitte einmal komplett gefilzt werden, so dass mir nichts einfällt, was ich schmuggeln könnte. Sonst bringe ich dem Clinton ein Glas Nutella vorbei.

Donnerstag, September 28, 2006

GröKotz

Grad machte ich mich noch lustig, doch heute muss ich feststellen, dass meine Heimatstadt von ihrer unrühmlichen Geschichte heimgesucht wird. So etwas ist nicht schön.

Dienstag, September 26, 2006

GröKaZ

Die meisten Künstler schaffen es ja doch immer erst postmortem, den großen Reibach zu machen. So weit, so bekannt. Das diese Theorie auch für andere Berufsgruppen gilt, halte ich nun auch für bewiesen.

Cape Canaveral

„Einmal Leben bitte.
„Darf es noch etwas mehr sein?“
„Danke, so ist genug.“

Zur Hölle mit guten Vorsätzen. Wollte ich vor zwei Wochen noch den Krachhelden meiner Jugend bei einem der raren Deutschlandbesuche beiwohnen, verwarf ich den Plan aufgrund allgemeiner Unlust und Bedenken, nicht wieder zurück zu kommen.

Geschichte wiederholt sich, nur dass ich diesmal neben einer Idee auch Freikarten wegwerfe. Freikarten für Billy Talent, die morgen in Dortmund spielen. Ich mache mir nichts aus Billy Talent, aber ich hätte mir etwas aus dem Abend mit Niko gemacht, der nun nicht stattfinden wird, weil am Mittwoch Beerdigung ist.

Ich verschiebe Starts und Landungen wegen schlechtem Wetter oder technischen Problemen, erkläre jede verschlafene Stunde zum Höhepunkt des Tages. Es wird Zeit, Zündsicherungen abzubauen.


Onelinedrawing - Better Than This (live)
Ich mag, wie er die Songs vermischt.

Montag, September 25, 2006

Im September

Ich kann nicht wissen, dass es das Wochenende der Großväter werden wird, als Neonflackern und blaue Sitzbezüge mich gegen den Schlaf ankämpfen lassen, während der Tageslichtverlust im Fenster mit Dunkelheitszugewinn die Plätze tauscht.

Vater wird später von noch mehr Scheißneuigkeiten sprechen, nachdem ich mit einer halben Stunde Verspätung den Treffpunkt erreiche. Es wird bis zur Autofahrt dauern, bis er damit rausrückt, dass Scheißneuigkeiten Krebs sind und es sein Vater ist, der sich, nachdem der Arzt ihm die Scheißneuigkeiten überbracht hat, als erste Reaktion vollaufen ließ.

Der Mann, den ich bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich ihn sah, als großen Geschichtenerzähler kennen lernte, hat also Krebs. Das, nachdem ihm ein Schlaganfall vor einigen Jahren, der das Sprachzentrum in Mitleidenschaft gezogen hat, schon sein liebstes Hobby arg erschwerte.

Ich werde mich wundern, dass mir all das nicht sehr viel ausmacht, was wohl daran liegen wird, dass ich meine Großeltern väterlicherseits kaum kenne. Dennoch bleibt ein schaler Beigeschmack, als Vater anfängt, Nachtodszenarien zu skizzieren und mich nun Mitglied einer Risikogruppe nennt.

Alles wird sich später am Abend relativieren, als ich mich mit den drei verbliebenen Freunden aus Kindertagen zum ersten Mal seit nunmehr einem Jahr treffe. Es wird keine Zeit für Nostalgie bleiben, denn als Dortmund in der 87. Minute noch immer mit einem Tor zurückliegt, bekommt Niko eine Kurzmitteilung, dass sein Großvater einen Anfall hatte, woraufhin er jenes seltene Zusammenkommen von Freunden verlässt.

Am nächsten Tag werde ich es sein, der eine Kurzmitteilung bekommt, in der Niko in knappen Worten erklärt, dass sein Opa nicht durch die Nacht gekommen ist.

Aber all das weiß ich jetzt noch nicht und als der Zugführer eine Verzögerung aufgrund einer Streckensperrung ankündigt, die Felix wenig später mit den Worten „Da hat sich wieder so ein Idiot umgebracht“ kommentieren wird, schlafe ich ein.

Eels - Last Stop: This Town

Freitag, September 22, 2006

Und täglich grüßt das Murmeltier

Der Tag beginnt mit einem Schock, denn Flüssigkristalle haben aus dem Gebilde, was sonst eine Acht darstellt, ein Element entfernt und nun ist aus der Acht eine Neun geworden. Mit einem Satz bin ich aus dem Bett – und prüfe das eben gesehene entsetzt auf meinem Handy. Tatsache: Neun Uhr. Die Zeit - mein alter Erzfeind.

Dazu muss ich erklären, dass ich eigentlich um halb zehn bei Vodafone sein müsste. Dies würde wiederum bedingen, dass ich um 8.50 Uhr in einen Bus steige, um dann die S-Bahn zu erwischen, die mich gegen 9.25 Uhr bei Vodafone vor die Tür setzt. Soweit die Theorie. In der Praxis habe ich mittlerweile herausgefunden, dass ich den Bus um 9.15 Uhr nehmen kann und um 9.45 Uhr bei Vodafone sein kann. So kann ich also 25 Minuten länger schlafen und komme nur 15 Minuten zu spät. Das sind zehn gewonnene Minuten. Meine Zeitmaschine.

Aber ich schweife ab. Es bleiben 15 Minuten, den Bus zu erreichen. Sachen zusammensuchen: 60 Sekunden, der Weg zur Dusche: 20 Sekunden. Feststellen, dass die Dusche nur eiskaltes Wasser ausspuckt: 150 Sekunden, sich gegen eine kalte Dusche entscheiden: 30 Sekunden, sich eine Weichprinte schimpfen: 10 Sekunden, der Rückweg aufs Zimmer: 20 Sekunden, Katzenwäsche: 120 Sekunden, Zähneputzen: 60 Sekunden, anziehen: 120 Sekunden, Rucksack zusammenpacken: 30 Sekunden, Portemonnaie suchen 30 Sekunden, aus dem Zimmer stürmen: 5 Sekunden.

Der Weg bis zur Bushaltestelle wird ziemlich genau 244 Sekunden gedauert haben, denn die Türen sind schon wieder geschlossen, als meine Hand gegen das Glas klopft.

Im Büro scheint es dann, als würde ich mit jeder Ziffer, die ich in Excel eingebe, gleichzeitig einen Teil meiner selbst verlieren. Nicht im Sinne von befreiend, eher im Sinne von verdummend und, das sei versichert, ich gebe an diesem Tag verdammt viele Ziffern in Excel ein. Hinzu das unschöne Gefühl, auf die Morgendusche verzichtet zu haben.

Als ich um Viertel nach sieben in mein Zimmer falle, ist in meinem Kopf nur noch Suppe. Was vermag es also, diesen Umstand zu ändern? Heute gebe ich nicht viel auf ein paar warme Worte, ein wenig Zuneigung und liebe Gesten. Ich will Geschenke! Ein paar habe ich schon gefunden, aber ich trage da noch ein wenig was zusammen, damit Brieftaschen nicht unnötig geleert werden. Also Notizbücher heraus, bald geht es los.

The Books - Smells Like Content

Donnerstag, September 21, 2006

Mittwoch, September 20, 2006

Das große Interview


Wie versprochen an dieser Stelle das Interview mit Tebis Nador. Unregelmäßigen Bloglesern sei jedoch zu Beginn die Lektüre des Vorgängerartikels empfohlen. Wir lernen einen Mann kennen, der sich recht einsilbig gibt, sich von Zeit zu Zeit in Widersprüche verstrickt und im Laufe des Gesprächs sehr vorsichtig wirkt. Außerdem bitte ich, besonderes Augenmerk auf meine beinahe Columbohafte Gesprächsführung am Ende zu legen. Doch lesen Sie selbst.


Hallo Herr Nador.

Hallo Herr Rupert.

Ich habe meinen Lesern gestern schon ein wenig die Thematik geschildert. Ich würde es dennoch schön finden, wenn Sie zur Einführung noch einmal kurz beschreiben würden, was genau Sie gemacht haben.

Bei dem Projekt Tebis 100 handelt es sich um die Beantwortung der interessanten Frage: Wie reagieren Studentinnen, wenn ihnen im StudiVZ eine fremde Person die Freundschaft anbietet? Entsprechend exakt war die Durchführung: Blonde und gut aussehende Studentinnen die virtuelle Freundschaft anbieten.

Und wo genau lag Ihre Motivation für dieses Projekt? Gibt es dazu eine Geschichte, einen Vorfall, eine Wette?

Die Motivation war reines Interesse am Verhalten junger Studentinnen in einer social software.

Aber wie sind Sie auf eben diese Frage gekommen? Man wacht ja nicht morgens auf und beginnt sich für das Verhalten junger Studentinnen in einer social software zu interessieren.

Doch, so ähnlich trug es sich zu. Hinzu kam, dass ich mir durch den Zufall ausgewählte Profile anschaue und herausfinden wollte, ob die jungen Frauen im Web 2.0 anders reagieren als auf der Straße 1.0.

Warum Frauen? Es hätten sich doch ebenso gut auch Männer in der Zielgruppe befinden können.

Tebis100 ist ja erst der Anfang einer langen Forschungsreihe, die in Zusammenarbeit mit dem Institut für Experimentelle Psychologie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf durchgeführt wird. Im späteren Verlauf könnte die Zielgruppe um Männer erweitert werden.

Wenn Sie dies als eine Forschungsreihe beschreiben, dann haben Sie auch eine Vergleichsstichprobe gemacht?

Nein.

Inwiefern wollen Sie dann einen Vergleich zu, wie Sie es nennen "Straße 1.0" ziehen?

Der Vergleich lässt sich aufgrund meiner 22-jährigen Straßen Erfahrung ziehen. Dort sind unsere Mitmenschen weitaus differenzierter als sie es in der sicheren Umgebung des Internets sind.

Zu welchen Ergebnissen kommen Sie denn?

Das Ergebnis von Tebis100 habe ich selbst nicht für möglich gehalten. Bereits nach wenigen Tagen waren auf meiner Freundesliste über 50 Namen. Das zeigt doch ganz klar, dass die Zutraulichkeit unter Menschen steigt, je digitaler deren Kommunikation und Umgebung ist.

Nun, die Umgebung dürfte ja noch immer vertraut sein. Sie führen den Zugewinn an Zutraulichkeit, wie Sie sagen, also auf das Medium zurück?

Selbstverständlich. Trotz der realen Namen und Profile im Verzeichnis ist jeder doch ein Stück weit anonym. Je anonymer, desto offner ist man für Sachen, die eventuell auch nach hinten losgehen können. Und so ist es ja mit einer Freundschaft auch. Der Vorteil der digitalen Welt: Man drückt einfach auf "Freundschaft beenden" und schon ist die nicht mehr existent.

Also stehen Sie einer "digitalen Freundschaft" kritisch gegenüber?

Nicht unbedingt. Zwar kann diese nie so intensiv sein, wie eine echte, doch übernimmt die "digitale Freundschaft" heutzutage oft eine Türöffnerfunktion für eine echte.

Sie geben also echter Freundschaft noch eine Chance?

Natürlich. Ich habe nie daran gezweifelt.

Wie genau sind Sie bei "Tebis 100" vorgegangen? Bitte erläutern Sie den Prozess kurz für Leser, die sich mit der Materie nicht auskennen.

StudiVZ bietet jedem die Möglichkeit sich selbst in Form eines Profils und einem Foto darzustellen. In einem zweiten Schritt werden diese Profile, im Normalfall anhand von echten Freund- und Bekanntschaften, vernetzt. Der umher irrende Surfer kann also sehen, mit wem welche Person befreundet oder bekannt ist. Dem entsprechend legte ich auch ein Profil an und begann damit mein Profil mit anderen zu verknüpfen. Dies bedarf jedoch der Zustimmung des jeweils anderen Teilnehmers.

Hatten Sie vor der "Verknüpfung" mit anderen Profilen bereits Kontakt mit deren Eignern?

Nein. Dies geschah stets initiativ von meiner Seite aus.

Wie waren die Reaktionen? Da wird ja noch etwas anderes gekommen sein, außer Ablehnungen und Annahmen.

Die häufigste Reaktion war die Nachricht: "kennen wir uns?", woraufhin ich antworte, dass dies nicht der Fall ist. Interessanterweise war in vielen Fällen die Freundschaft bereits akzeptiert worden.

Und außer diesem "kennen wir uns?" war da nichts?

In der sehr wenigen Fällen wurde ich darauf aufmerksam gemacht, wie es denn sein könnte, dass ich "an jeder Uni in Deutschland eine kenne". Auch darauf wurde ehrlich geantwortet. Einige andere fanden es lustig und interessant zugleich und wollten mehr über mich wissen. So kommt man natürlich auch ins Gespräch...

Sie haben also auch Bekanntschaften gemacht?

Es wurden viele Worte gewechselt. Smalltalk, wie man ihn kennt. Nur in einem Fall wurde es ein Longtalk.

Man muss also nur eine gewisse Menge Menschen ansprechen, um in Einzelfällen - nennen wir es - Erfolg zu haben?

Die Menschen wurden ja auf keine Weise angesprochen, die besonders kreativ ist. Zudem fand das Versenden und Beantworten der Nachrichten stets gleichzeitig statt. Daher fehlte auch die Energie, um - wie Sie es nennen - Erfolg zu haben. Aus diesem Grund würde ich nicht sagen, dass es einer großen Menge bedarf. Es bedarf sicherlich mehr Zuwendung.

Ist das etwas, was wir aus Ihrem Projekt lernen können?

Ganz bestimmt.

Wie sah es denn - ganz allgemein - mit den Rücklaufquoten aus. Will sagen: Wie viele Freundschaftseinladungen haben Sie verschickt, bis sie die Einhundert voll hatten?

Ich habe nicht gezählt. Das Verhältnis schätze ich auf etwa 1:3.

Was haben Sie persönlich aus ihren Erfahrungen der letzten Wochen gelernt haben. Anders gefragt: Was ist die Moral Ihres Projektes?

Es ist schwierig bei diesem Projekt über Moral zu sprechen. Schließlich halte ich es weder für verwerflich, eine Freundschaft zu einer unbekannten Person anzunehmen, noch sie abzulehnen oder zu ignorieren. Das Internet ist eben ein direkteres Medium, obgleich es weitaus indirekter stattfindet.

War es also ein Nebenziel Ihrer Untersuchungen, den Menschen, oder gar dem Internet einen Spiegel vorzuhalten um auf diese Weise Strukturen und Verhaltensweisen aufzuzeigen und zu deuten?

So hoch möchte ich das Projekt nicht hängen. Auch die Verhaltensweisen innerhalb von social software möchte ich weder loben noch anprangern. Jedoch betrachte ich es für interessant, wie Menschen innerhalb von social software agieren und reagieren.

Dann ist Ihr Projekt also bis auf das Betrachten von Aktionen vollkommen sinnbefreit?

Vollkommen nicht, aber die Ergebnisse sind weder repräsentativ, noch relevant genug.

Dann verstehe Ich den Sinn ihrer Untersuchungen nicht ganz.

Der Sinn war ja auch nur die Beantwortung der zu Beginn gestellten Frage: Wie reagieren Studentinnen, wenn ihnen im StudiVZ eine fremde Person die Freundschaft anbietet? Das Ergebnis: Ein großer Teil nimmt die Freundschaft an.

Wo werden Sie Ihre Ergebnis publizieren?

Es freut mich, dass Sie darüber berichten. Ihre Blog page impressions reichen für die Relevanz der gewonnenen Erkenntnis grade so aus.

Wie schön, dass ich diese Geschichte exklusiv von Ihnen bekomme. Bevor wir nun aber auseinander gehen, habe ich noch zwei Dinge, auf die ich mir nicht recht einen Reim machen kann. Ich verstehe noch nicht ganz, warum die Zielgruppe ausschließlich "blond und gut aussehend" sein musste. Wo liegt da der Vorteil?

Sind wir doch mal ehrlich: Zum Versenden der Bitte auf Freundschaft muss das Profil aufgerufen werden, auf dem sich auch an prominenter Position das Foto der Person befindet. Und wir betrachten doch alle gerne schöne Frauen. "Blond" ist ganz subjektiv.

Dann entstand dieses Auswahlkriterium also aus persönlicher Präferenz?

Lediglich diese haben persönlichen Bezug.

Das Urteil über die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit dieser persönlichen Note überlasse ich an dieser Stelle anderen. Herr Nador, abschließend noch eine Frage. Wie ich in der Zwischenzeit recherchiert habe, bietet die Heinrich Heine Universität Düsseldorf nur ein Institut in experimenteller Psychologie an: Das Institut für Experimentelle Biologische Psychologie beschäftigt sich aber mit dem Sehsystem des Menschen und der Suche nach einem neuronalen Korrelat des Bewusstseins. Wie passt Ihre Studie da hinein?

Die Untersuchung findet auch hier ihren Platz. Schließlich finden bei der Bestätigung der Freundschaft Gehirnaktivitäten statt, welche mit den Bewussteinsprozessen einhergehen. Die mentalen und neuronalen Strukturen bilden somit die Basis für ein Forschungsprogramm, welches im Rahmen der cartesianischen Metaphysik sehr sinnvoll, da Descartes stets von einem immateriellen Geist ausging. In der heutigen Zeit ist daher zu erforschen, ob es einen digitalen Geist, bestehend aus 1001101 gibt. Versuche, die bereits Franz Josef Gall unternahm, schlugen bislang immer Fehl. Dank StudiVZ können diese Forschungen neu aufgenommen und mit Hilfe modernster Servertechnologie weitergeführt werden. Ein Hoch auf StudiVZ!

Na und Sie behaupten, dass ihre Forschungen keinen tieferen Sinn haben? Warum so bescheiden, Herr Nador?

Ungelegte Eier hängt man schließlich nicht an den Kirchturm.

Ein schönes Schlusswort, wie ich finde.

Da stimme ich Ihnen zu.

Verraten sie uns doch nur kurz, was Ihre nächsten Projekte zum Thema haben.

Gerne greife ich an dieser Stelle das eigentliche Schlusswort auf: Unbefruchtete Eier hängt man nicht an den Kirchturm.

Dann freue ich mich, schon bald wieder von Ihnen zu hören und danke für das Gespräch.

Ich danke Ihnen auch, Herr Rupert.



Nachtrag vom 21. Oktober:
Nachdem die ganze Sache hier nun weitaus höhere Wellen geschlagen hat, als irgendwer von uns beiden auch nur im Traum gedacht hat, wurde ich von Tebis gebeten, folgende Gegendarstellung zu veröffentlichen, um auf diese Weise Missverständnissen vorzubeugen. Es spricht zu Ihnen, zu Euch, Tebis Nador:

Das Projekt Tebis100 wurde ausschließlich von Tebis Nador konzipiert und durchgeführt. Tebis100 steht nicht, wie im Interview behauptet, in Zusammenhang mit dem Institut für Experimentelle Psychologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Tebis Nador entschuldigt sich für die entstandenen Verwirrungen.

Dienstag, September 19, 2006

100 Freunde sollt Ihr sein

Nach all dem Egogewäsch der letzten Wochen wird es Zeit für harten Investigativjournalismus. Gleich zu Beginn sehe ich es als meine Pflicht an, mich von all den im Folgenden beschriebenen Machenschaften zu distanzieren und mich weder als Befürworter, noch ausgesprochener Gegner eben dieser auszugeben. Neutralität ist das Gebot der Stunde und in diesem Fall bin ich die Schweiz. Nun aber Vorhang auf und Auftritt Tebis Nador.

Nador trägt einen Künstlernamen ohne Künstler zu sein. Womöglich ist er das aber vielleicht doch und am Ende sind Namen Schall und Rauch. Nador ist ein junger Spund in den Anfängen seiner zwanziger Jahre und würde man ihn sehen, würde man ihm gewiss nicht zutrauen, was er in den letzten Wochen zustande gebracht hat. Doch dazu später mehr.

Nachdem nun die Hauptfigur dieser Geschichte mehr oder weniger ordentlich vorgestellt wurde und ich weiterhin erwähne, dass der Zeitrahmen der Handlung in etwa die letzten zwei bis drei Wochen umfasst, gilt es, dem Leser den Ort des Geschehens näher zu bringen. Dafür müssen keine großen Reisen unternommen oder Landschaften beschrieben werden, reicht es doch, einen Abstecher in die unendlichen Weiten des Internet zu wagen.

Um auf den Punkt zu kommen: Es geht um das in letzter Zeit deutlich an Popularität gewinnende Studiverzeichnis. Um dies nicht selbst erklären zu müssen, werde ich an dieser Stelle Wikipedia zu Rate ziehen.

StudiVZ.net (Abkürzung für Studiverzeichnis) ist eine zur Zeit (Sommer 2006) schnell wachsende Social-Network-Plattform im deutschsprachigen Raum. Es hat sich binnen weniger Monate bei Hunderttausenden Studenten als täglich genutzte Kommunikationsform etabliert.

Auf studiVZ.net können Studenten sich ein Profil anlegen und sich mit ihren real existierenden Freunden in einem Netzwerk verbinden, Informationen austauschen und ihre Kontakte zu anderen Studenten oder studentischen Organisationen pflegen.

Soweit, so kuschlig - noch einmal zusammengefasst: Ein Ort, an dem massenhaft junge Menschen sich und ihr Leben präsentieren, indem sie sich eine Seite anlegen, auf alles vermerkt wird, von dem sie denken, dass es sie aus- und für andere Leute attraktiv macht. Das ist wichtig, denn man bekommt die Möglichkeit eingeräumt, virtuelle Freundschaften mit anderen Menschen zu schließen. Das sind natürlich zum einen Menschen, die man auch im Leben außerhalb eben dieser virtuellen Welt mögen und schätzen gelernt hat. Auf der anderen Seite ist dieser Freundschaftsbegriff aber auch durchaus dehnbar und es kommt zu „Freundschaften“ zwischen Menschen, die noch nie ein Wort gewechselt haben.

Hierzu Wikipedia:

Motivation hierfür ist der Aufbau der Seite, der suggeriert, den Einzelnen an der Anzahl seiner Kontakte („Freunde") zu messen.

Ach so. Im Grunde genommen heißt das nichts anderes als: Nenne mir die Anzahl deiner „Freunde“ und ich sag dir wer du bist. Es fällt durchaus schwer, Menschen zu glauben, dass sie mit eben diesen 60 Menschen in ihrem Profil befreundet sind und wenigstens ein gutes Gespräch geführt haben. Wenigstens mag ich das nicht glauben. Eher wahrscheinlich: es gibt regelrechte Sammler von Kontakten: Freundschaftskollektoren. Eben dieser Sorte Mensch bin auch ich – um einmal mehr eine persönliche Perspektive in diese doch recht trockene Angelegenheit einzubringen – schon begegnet und kann aus Erfahrung behaupten, dass man den „Ablehnen“-Knopf unter der Mitteilung „Harry Hirsch möchte dich als Freund hinzufügen“ einfach nicht anklicken mag, weil einen sonst ein schlechtes Gewissen für Tage verfolgen wird.

An dieser Stelle endet dieser kleine Exkurs und wir schlagen den Bogen zurück zu Tebis Nador, denn der ist einer dieser Freundschaftskollektoren. Allerdings nicht von der Art, die einfach Menschen hinzufügt, die er mal kurz gesehen hat oder um drei Ecken kennt. Nador ist da deutlich progressiver, systematischer und gleichzeitig auch innovativer, denn hinter seiner Sammelleidenschaft verbirgt sich ein Projekt – das sogennante

Doch worum geht es jetzt genau? Es ging Nador an nie darum, gewöhnliche Menschen zu seinen Freunden zu zählen. Es müssen besondere Kriterien erfüllt sein. Aus einer Email Nadors:

Die Auswahl der Studentinnen erfolgte lediglich über die Kriterien blond und gut aussehend.

Nun, Sie bekommen eine Vorstellung von „Tebis 100“? Ja, Sie raten richtig. Bei „Tebis 100“ geht es Nador darum, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele, nach seinen subjektiven Bewertungsmaßstäben attraktive, Frauen zu seinen Freundinnen zu zählen. Die Zahl 100 gibt die Marschrichtung vor. Einhundert waren das Ziel und eben dieses hat Nador am heutigen Tage erreicht. 100 Frauen, die er nicht kennt, sind nun Freunde von Tebis Nador und damit Freunde eines Phantoms, denn Nador existiert ja, wie bereits oben erwähnt nicht wirklich. Wenigstens nicht unter diesem Namen.

Was soll man nun davon halten? Ist es Geilheit oder Gesellschaftskritik, Libido oder Langeweile, Sexualtrieb oder Selbstbewusstsein? Und warum fügt man jemanden wie Nador als Freund hinzu, ohne ihn überhaupt zu kennen? Die Anonymität des Internets? Unbefangenheit? Neugierde? Oder ist es am Ende doch das schlechte Gewissen, das einen nicht auf den „Ablehnen“-Knopf drücken lässt.

Und wer ist Nador? Sozialkritiker? Spaßvogel? Selbstdarsteller? Spinner? Soziopath? Wer verbirgt sich hinter dem harmlos wirkenden Kumpeltypen? Was sind seine Beweggründe? Was muss man tun, um 100 blonde, attraktive Frauen zu Freunden zu machen? Wie reagieren die Opfer? Was hat er bei seiner 100. Freundin getan? Und kommt nach Tebis 100 nun Tebis 1000?

Das alles lesen Sie morgen im zweiten Teil:

Das große Tebis Nador Interview.

Nur hier, bei mir.

Abschließend spielen wir zum Tagesthema noch:
Nada Surf - Popular

Montag, September 18, 2006

Fotoblog

Die Bilder des (Sonn-)Tages.




Sonntag, September 17, 2006

Leben mit anderen Menschen

Ich wache verschwitzt auf. Daran ist Georg-Eugen schuld. Am Aufwachen, nicht am Schweiß. Es ist dunkel, denn es ist Nacht, was wiederum damit zusammenhängt, dass es zwei Uhr am Morgen ist. Georg-Eugen, da steht in Krakelschrift ein Name auf dem Briefkasten, den ich nicht erinnere, ist mein neuer Nachbar. Seit zwei Wochen. Zwei Wochen, die er spülend zugebracht hat, jedenfalls ist alles, was ich von ihm höre. Das Scheppern von Geschirr und Plätschern von Wasser. Einmal haben wir uns morgens auf dem Flur getroffen und haben einen anständigen Vierzeiler hingelegt, der mich noch immer stolz macht, denn immerhin habe ich ihn zu verantworten.

Ich wünsche einen guten Morgen und stellte mich vor. Er stellt sich ebenfalls vor, ich vergesse den Namen sofort. Er möchte wissen, ob ich auch ein Praktikum mache. Ich entgegne, erfreut über meine Dialogpremiere mit einem Mitbewohner, dass ich bei Vodafone bin, erkläre kurz und frage zurück, was er denn macht. Er erwähnt einen dieser Firmennamen, die sich mangels besserer Einfälle aus drei Buchstaben zusammensetzen. Ich erkundige mich, in Hoffnung auf ein längeres Gespräch, ob er denn jetzt einen Bus erwischen muss. Er behauptet, dass er das nicht müsse, weil sein Praktikumsgeber ein Gleitzeitmodell führt. Sagt es, verabschiedet sich und verschwindet aus der Tür. Was war denn das?

Nun ist Georg-Eugen soeben mit lautem Gepolter in sein Zimmer eingefallen, was mich erwachen ließ. Jetzt telefoniert er scheinbar mit einem Schwerhörigen wobei es mir vorkommt, als stünde er direkt neben meinem Bett. Ich frage mich ernsthaft, ob die Eltern einiger Menschen sich lieber anderweitig vergnügt haben, als sie ihrem Kind Grundlegendes in Rücksichtnahme und Umgang mit anderen Menschen vermitteln sollten.

Hierfür ein weiteres Beispiel: Seit etwa einer Woche trifft sich jeden Abend eine Gruppe fremdsprachiger Menschen direkt unter meinem Fenster zum rauchen. Dabei reden sie so laut, dass es teilweise schwer fällt, einem Film zu folgen. Schlimmer ist jedoch, dass sie aus meinem Zimmer eine olfaktorische Kneipe machen, wenn ich das Fenster nicht rasch schließe. Während ich auf Regen hoffe oder als Alternativplan bei Google recherchiere, ob mich das Material, dass ich benötige um eine explosionsfähige Atmosphäre unterhalb meines Zimmerfensters zu schaffen, in größere Unkosten stürzen wird, zieht neues Unheil herauf.

Das Unheil lässt sich von einer Panflöte ankündigen. Es folgen mehrere Stunden Weltmusikgenuss, von den Anden bis nach Indien. Irgendeine Eso-Tante aus dem ersten Stock feiert wohl eine Räucherstäbchenparty bis drei Uhr morgens. Ich drehe lauter, bis der Sprecher meines Hörbuchs etwa die Lautstärke einer Bahnhofsdurchsage annimmt.

Genug gegrantelt. Jetzt melde ich mich noch fix für den Onlineclub der Kopfrentner an und ab ins Bett.

South - Paint The Silence

Samstag, September 16, 2006

Öffentliche Verkehrsmittel, Episode CXXXVII

„Ist nicht mehr gültig!“
- „Hä?“
Ich bin überrascht und bringe keine besonders schlauen Sätze heraus.
„Ist nicht mehr gültig, das da.“

Der Busfahrer zeigt auf mein Ticket, dass ich ihm soeben wie einen imaginären FBI-Ausweis im aufgeklappten Portemonnaie vor die Nase hielt. Ich überlege einen Moment zu lang. Das habe ich doch Anfang des Monats gekauft. Während ich ungläubig auf den kleinen gelben Zettel starre, um die dort aufgedruckten Zeichen zu den Worten „September 2006“ zusammenzusetzen, weicht die vornehme Morgenblässe in meinem Gesicht zunehmender Röte. und der Halbschlafzustand einem unangenehmen Kribbeln im Kopf. Hallo Adrenalin. Ich spüre, wie die Blicke der alten Damen zu meiner Linken langsam in meine Richtung wandern. Gespräche verstummen. Junger Mann will schwarzfahren, da schaut man doch gerne hin.

Ich protestiere, nachdem ich mich selbst über längere Zeit von der Gültigkeit meines Tickets überzeugt habe, indem ich mein Portemonnaie sehr nah vor das Gesicht des Fahrers halte.
„Aber das kann gar nicht…“
Wie gesagt, ich bin nicht besonders schlagfertig in derlei Situationen um eine solche Uhrzeit. Der Busfahrer lacht verschmitzt.
„Ist Scherz gewesen, Mann.“
„Oh.“

Oh. Ja. Schöner Scherz. Hui. Er grinst breit, ich gequält. Das Busfahrer nur Busfahrer geworden sind, weil es den Beruf des Sadisten leider nicht gibt, habe ich ja bereits mehrfach festgestellt. Leider verschwindet die Röte im Gesicht nicht so schnell, wie sie gekommen ist. Ich gehe an den Omas vorbei, die mich vermutlich noch immer für einen Schwarzfahrer und meinen Rucksack für ein Waffen- und Drogentransportbehältnis halten. Sie schauen mir nach. Auf halbem Weg durch den Bus rufe ich:
„Solche Scherze am frühen morgen sind aber nicht wirklich gut.“ Super Satz, mein Bester, hast du toll hingekriegt. Meckerndes Lachen von vorne. Scheiße, der Tag fängt gut an.

Freitag, September 15, 2006

Stadt aus Glas

Genau ein Foto. Das ist alles, was vom Tag bleibt. Aber das später. Ich wollte also eine Wiederholung von gestern. Die S-Bahn rotzt mich am Hauptbahnhof auf den Bahnsteig und ich verzichte diesmal darauf, meinen Mitmenschen im Reisegewusel auszuweichen. Heute sind die anderen dran.

Draußen ist es schwül. Die Luft drückt und es fühlt sich an, als würde über der Stadt ein dünner, dreckiger Film liegen, der die Hitze festhält. Ich hole die Kamera aus dem Rucksack und mache mich auf den Heimweg.

Ein Gerüst versperrt den halben Fußweg, als mich ein Schlag auf den Rücken trifft, den ich mit einem langen Schritt nach vorn abfange. Instinktiv balle ich die freie Hand zu einer Faust, weil ich davon ausgehe, diese gleich benutzen zu müssen. Irgendetwas hat meinen Rucksack erwischt. Ich drehe mich um und hinter mir läuft, wild gestikulierend, ein kleiner Mann. Er mag etwa Mitte zwanzig sein und würde in einem Western sicher einen ordentlichen Indianer abgeben. Allerdings ist er heute in Zivil, also der Reservatsindianerversion unterwegs. Inklusive Drogenkonsum – das unterstelle ich an dieser Stelle einfach mal. Und weil Hood gerade eine Pause in meinen Kopfhörern einlegen, kann ich sogar verstehen, was er sagt.

„Get the fucking things off. Get the fucking things off.” Den gezischten Akzent kann ich nicht zuordnen, British English ist das aber nicht. Ich brauche noch ein wenig, bis ich verstehe, dass er die Kopfhörer meint. Ich leiste seinem unfreundlich formulierten Imperativ keine Folge und bleibe stattdessen stehen, so dass ich nun den ganzen Weg blockiere und er mich fast umrennt. Er blickt mich mit wilden Augen an. Warum eigentlich Englisch? Ich überlege einen Moment eine passende Antwort. Schlagen geht ja nicht, denn das habe ich bisher noch nie gemacht und ich werde bestimmt nicht damit anfangen, wenn ich meine Kamera und komplette Fotoausrüstung am Körper habe. Dass ich gewinnen würde, behaupte ich jetzt einfach mal aufgrund von körperlicher Überlegenheit.

Es will mir nichts Sinnvolles als Antwort einfallen und so schaue ich ihn einfach nur an und fange an zu grinsen. Das macht ihn zornig, und er stößt mich leicht zur Seite, als er sich an mir vorbeidrängt. Jetzt geht er vor mir und ich laufe ihm einfach hinterher. Auf den nächsten Metern schaut er sich immer wieder böse um, entweder, die Ernsthaftigkeit seines Auftritts noch zu unterstreichen, oder aus Angst, jetzt aufs Maul zu bekommen. Jedenfalls grinse ich ihn die ganze Zeit über an.

Schließlich schaut er nur noch nach hinten, läuft aber dabei weiter. Das bringt ihn um ein Haar in ernsthaftere Probleme, als er sie mit mir je haben könnte, denn er rempelt zwei nette kahlgeschorene Gorillas im Muskelshirt an, die sich angeregt in osteuropäischer Sprache unterhalten. Außer bösen Blicken und lautem Protestbellen tun die beiden aber nichts.

Er beginnt schneller zu laufen, doch ich bleibe einfach mal dran. Ich mache mir einen Spaß daraus, zuzusehen, wie er versucht, von mir fort zu kommen und dabei beinahe eine Frau mit Kinderwagen umreißt. Er schafft es, sich binnen Sekunden eine gute Platzierung in den Top 5 meiner Lieblingsirren zu verschaffen. Ich biege hinter ihm noch um eine Ecke und sehe, wie er in einem Hauseingang verschwindet.

Als ich den Hauseingang passiere, der ein Eingang zu einer öffentlichen Einrichtung unbestimmter Art ist, steht er dort und gibt vor, die Aushänge zu lesen. Das dürfte schwer fallen, denn wer sich mit schlechtem Englisch behelfen muss, wird sich kaum mit Beamtendeutsch auseinandersetzen wollen. Er blickt aus den Augenwinkeln zu mir herüber. Einen Augenblick überlege mich, ob ich mich neben ihn stellen und die Aushänge studieren soll. Da ich aber nicht mit einem Messer in der Brust vor irgendeiner Behörde enden will, gehe ich weiter.

Ich laufe noch etwa eine Dreiviertelstunde in Richtung Heimat und tue nichts außer, ob der drückenden Schwüle, ordentlich zu schwitzen. Meine Stimmung ist mittlerweile genauso trüb wie der Himmel und wird erst wieder dadurch aufgebessert, dass ich an einer Kreuzung einen Polizisten im Halbschatten entdecke.

Mein Gespür für Polizei habe ich während des Zivildienstes entwickelt. Denn dort musste man, wollte man alle Hungerleidenden pünktlich mit Essen versorgen, Verkehrs- und Geschwindigkeitsvorschriften übertreten. Dagegen hat die Polizei, gegen die ich sonst nichts Schlechtes sagen kann, natürlich etwas und so entwickelte ich nach einiger Zeit einen radargleichen Sinn für die Anwesenheit von Schutzmännern und –frauen. Das Ergebnis war, dass ich als erster Zivildienstleistender meiner Station nie geblitzt wurde. Außerdem der einzige, der komplett ohne Unfall ausgekommen ist. Ebenfalls Rekord. Von daher glaube ich, der perfekte Fluchtwagenfahrer zu sein – obwohl – wer will schon einen Fluchtwagenfahrer, der nicht rückwärts einparken kann?

Jedenfalls versteckt sich dort ein Polizist, der die sonnenbebrillten Augen auf die Kreuzung richtet und eifrig in das große Sprechfunkgerät kommentiert. Vorbildlich gehe ich bei Grün über die Kreuzung und freue mich auf das, was da kommen würde.

Ich riet richtig. Keine zweihundert Meter weiter blockieren zwei Streifenwagen die Straße und Fahrzeuge werden herausgewinkt. Noch ein Kilometer bis zu meinem Zimmer – wenn ich heute noch ein Foto machen will, dann hier.

Polizei fotografieren kann Ärger geben. Wenigstens, wenn man grad keinen Presseausweis zur Hand hat. So schaue ich mich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet ein Junge aus einem Fenster die Verkehrskontrolle. Die rechte Hand bewegt die Kamera zum Auge. Die Linke stabilisiert das Objektiv und dreht den Zoom, während der rechte Daumen den Fokus bedient. Das ganze dauert etwa zwei Sekunden. Klack. Klack. Vielen Dank.

Donnerstag, September 14, 2006

Film des Tages

Kaufen Sie, leihen Sie, klauen Sie, aber - um Gottes Willen – schauen Sie! Grad noch einmal angesehen, schnell mal empfohlen: Igby Goes Down. Ein Film für Sie (Kieran Culcin und Ryan Philippe) und Ihn (Claire Danes und Amada Peet). Doch neben diesen reichlich oberflächlichen Entscheidungskriterien sexueller Natur erzählt der Film eine Geschichte mit einigem Tiefgang, Witz, Charme und Feingefühl. Außerdem gibt es an dieser Stelle die mit Abstand beste durch-die-Tür-Gespräch-Szene die ich jemals sah. Andere Leute schreiben besser als ich, ich reiche mal durch. Ach, den (schlechten) Trailer gibt es hier.

Homerun

Einfache Pläne sind die besten Pläne und auch die, an die man sich mit der größten Wahrscheinlichkeit hält. Das gilt wenigstens für mich. Es darf keine Wenn-dann-Bedingung eingebaut sein – nicht mal die Kleinste. Kein Kompromiss, den mein Faulheitszentrum im Gehirn nicht ausnutzen würde. Denn das würde es tun. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

So war der Plan des heutigen Tages ein ebenso einfacher, wie genialer Schachzug, um mich von den Gedanken an verschwendete Tage und Lebenszeit zu befreien: Ich würde von Vodafone bis zur Wohnung laufen. Die Strecke, für die die „Öffis“, wie ich sie liebevoll nenne, eine halbe bis dreiviertel Stunde brauchen, einmal auf Schusters Rappen zurücklegen, geschätzte 12 Kilometer per pedes.

Ich verlasse den Büroturm, der einmal ein Hotel werden sollte, gegen sechs Uhr. Die Sonne steht tief, ist aber noch immer warm genug, mir den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Ich befinde, die Straßenbahnstrecke zu laufen, denn so ist die Gefahr des Verlaufens am geringsten und die Gesamtmission am wenigsten gefährdet. Außerdem ist es sicher interessant, den täglichen Weg einmal in entschleunigter Variante zu begehen.

Hier ist kein Mensch. Ich habe die Allee für mich alleine. Ab und zu rauscht eine vollbesetzte Straßenbahn vorbei, deren Insassen mich neidisch anblicken. Ich freue mich über das gute Wetter und den Geruch, der mich an Aufenthalte bei meiner Großmutter in Kindertagen erinnert, dessen Beschreibung an dieser Stelle aber zu komplex ist.

Mitten im Industriegebiet sitzt ein Steinbuddha, dessen Anwesenheit mich stutzig macht, ist er doch mindestens vier Meter groß und – wenn massiv – recht schwer. Ich bemerke im vorbeigehen, dass er Werbung für einen Gartenzubehörladen macht. Na, wenn Buddha wüsste...naja...Blitze schmeißen ist ja nicht sein Stil...

Am Belsenplatz kommen die Menschen ins Spiel. Man schaut mich misstrauisch an, als sei mein T-Shirt mit einem Satz wie „Die Kamera ist eine Waffe und der Rucksack ein Bombe“ bedruckt. Das ist es selbstverständlich nicht, aber ein Teleobjektiv vermag es scheinbar, Blicke auf sich zu lenken.

Der Rhein und seine Brücken können mich nicht beeindrucken. Anders ist das wohl bei einem Hobbyfotografen, der sich beinahe umbringt, als er mit seiner kleinen Medionkamera über die Straße rennt. Dann ist da noch der bärtige Filmemacher, dessen Werk ich nicht sehen möchte, weil ich nicht vor Langeweile sterben will: Er filmt geschlagene fünf Minuten das andere Rheinufer.

In der Altstadt spielen Hunderte sehen und gesehen werden. Die Voyeure sitzen so, dass sie den Mittelgang gut im Blick haben, die Selbstdarsteller flanieren über Kopfsteinpflaster. Ich drängele, weiche aus, schiebe mich vorbei. Mittlerweile bin ich ordentlich ins Schwitzen gekommen, denn die Fotoausrüstung auf dem Rücken und die Kamera in der Hand tun ihr Übriges zu den hohen Temperaturen.

Auf einer Brücke findet ein Fotoshooting statt. Eine Fotografin, die mit sich ihrer Ausrüstung meines Neides gewiss sein kann, gibt letzte Anweisungen an ein wohl nicht ganz so professionelles Model. Ich mache den jungen Mann auch zu meinem Model – ohne dass er es merkt.

Die Sonne geht langsam unter, aber kühler wird es nicht. Der Geruch hat sich geändert. Jetzt ist es diese typische süß-säuerliche Note, die mittlerweile meiner Kleidung anhaftet und die ich sicher Zeit meines Lebens mit dieser Stadt in Verbindung bringen werde. Der Düsseldorfmief. Ich kann nicht sagen, was es ist und ich möchte es auch eigentlich gar nicht wissen.

Ohne genaue Orientierung laufe ich den richtigen Weg. Ich erkenne Straßenzüge, die ich bislang nur hinter Glas wahrnahm und freue mich, dass ich mich nicht verlaufen habe.

Es wird mittlerweile zunehmend dunkel und als ich an eine Tankstelle komme reicht das Licht gerade noch für Fotos. Die Dame mit dem roten Clio schaut verdutzt, doch ich lasse mich nicht aufhalten.

Dort ist die Haltestelle, an der ich normalerweise umsteige. Der Ort sieht aus der Ferne betrachtet komplett anders aus, in jedem Fall aber kleiner und unwichtiger – nicht mehr der große S-Bahnhof, an dem man das Verkehrsmittel wechselt. Neue Perspektiven sind spitze.

Spärlich besetzte Züge scheppern an mir vorbei und die Innenbeleuchtung präsentiert die wenigen Insassen wie in der Frischwarenabteilung eines Supermarktes. Ich freue mich, nicht gefahren zu sein.

Die Frau, die den Kopf so seltsam schräg hält, führt laute Selbstgespräche und ich weiche dem Blick ihrer suchenden Augen aus. Hinschauen oder ignorieren? Diesmal ignorieren.

Dunkelheit greift weiter um sich und die letzte Kreuzung ist erreicht. Noch einen Kilometer – vielleicht. Unter meinem Rucksack ist das T-Shirt mittlerweile pitschnass und ich bin froh, dass es schwarz ist und hoffe außerdem, dass man den Unterschied bei diesen Lichtverhältnissen nicht sehen kann.

Kurz bevor ich meine Endhaltestelle erreiche, braust eine S-Bahn heran und spuckt eine Handvoll Leute aus, die sich schnell verteilen und zu ihren Wohnungen hasten. So sieht das also aus. Perspektivwechsel sind super – wie gesagt.

Ich schlendere hintendrein und zum ersten Mal in zwei Monaten habe ich wirklich Hunger. Mittlerweile ist es acht Uhr und ich habe binnen zwei Stunden in zügigen Schritten halb Düsseldorf durchmessen.

Die Tür zu und der Kühlschrank auf. Nie haben Wurst- und Käsebrote besser geschmeckt als heute.


Elliott Smith - Son Of Sam

Dienstag, September 12, 2006

Serie des Tages

…oder eigentlich Serie der letzten Wochen. Eigentlich bin ich ja gar kein Serientyp. Kein GZSZ, kein CSI oder Lenzen & Partner bestimmen meine Tage. Das ist schön und soll so bleiben. Zugegeben, als Kind habe ich sicher oft die Sesamstraße verfolgt, die Sendung mit der Maus und Hallo Spencer gut gefunden, später dann den Roadrunner, den Darkwing Duck, die Rettungstruppe und Gummibären geschaut, kurz darauf keine Folge vom A-Team und CHiPs (kennt die noch jemand?) verpasst, jeden Nachmittag Mac Guyver verfolgt und bin irgendwann sogar bei Emergency Room und Dawsons Creek (das ist mir nicht peinlich) gelandet, wo ich es aber aufgrund komplexer werdender Handlungsstränge nicht länger als die erste Staffel aushielt. Simpsons gehen auswendig, Family Guy noch nicht ganz und…

…naja. Gut. Ich bin – ich war – ein Serientyp. Und als dieser (Ex-)Serientyp empfehle ich an dieser Stelle: Arrested Development. Sehr sehr gut. Ich bin mittlerweile am Ende von Staffel 2 - und das will etwas heißen. Hier der Pilot (Teil 1).


Unsinn um 2 Uhr

Euch will ich nicht mehr sehen. Dich nicht, Mahatma, dich auch nicht, Olga und Jörg, du kannst mir gestohlen bleiben. Bitte weitersagen.

Ich muss mich erklären. Es geht um Fortbewegung – nicht Fortbewegung von Menschen – sondern Fortbewegung mit Menschen, genauer gesagt geht es um die S-Bahn, die ich im Grunde eigentlich sehr mag – dazu ein andern Mal vielleicht mehr. Ich mag nur sie nicht mehr sehen, die Menschen, mit denen ich mir jeden Tag einen Wettbewerb im eisernen Schweigen liefere. Es müssen neue her.

Es beginnt schon vor der S-Bahn: Die alte Dame, deren schlohweißes Haar an den Spitzen leicht ins gelb übergeht – ich mache dafür das Nikotin verantwortlich – wird sich wie sonst jeden Tag an der Haltestelle mit rasselnder Stimme eine Zigarette schnorren, ihre Beute vornübergebeugt in eine Ecke schleppen um sie dort in hastigen Zügen aufzurauchen. Das mag ich nicht mehr sehen.

Zwei Sitzreihen weiter wird Mahatma sitzen, der mit seinem dürren Körperbau, der Glatze und der Nickelbrille aussieht, wie eine zu groß geratene Kopie von Gandhi. Kann man damit etwas anfangen - so auszusehen wie Gandhi? Also Supermärkte einweihen geht schon mal nicht. In der Fußgängerzone wären mit einer Gitarre sicher ein paar Euro drin, weil senile Herrschaften sich an den schönen Film erinnern, den sie für eine Reportage hielten und sich wundern, wie es den netten älteren Herren in ihre Heimat verschlagen konnte. Aber vermutlich ist er einfach nur Beamter in einem kleinen Büro, in dem er sich mit seinen zwei Metern immer ducken muss, damit er sich die Stirn nicht am Türrahmen aufschlägt.

Olga hat die sechzig wohl schon länger überschritten. Ein faltiges Gesicht, das von einem Kopftuch umrahmt wird, wenigstens dann, wenn es kalt ist. Ich kann mir keinen Reim auf die Art ihrer Beschäftigung machen. Jetzt das typische Klischee der osteuropäischen Putzfrau zu bemühen wäre sicher nicht ganz abwegig, aber ich habe mich mit mir darauf geeinigt, dass sie wohl einfach nur einkaufen fährt. Zum Markt, denn in ihrer großen groben Ledertasche verbirgt sie sicher noch zwei Tragenetze, mit denen sie allerlei frisches Gemüse – auch die Sorten, von denen ich noch nicht einmal gehört habe – nach hause transportiert.

Jörg gibt ebenfalls Rätsel auf. Er ist immer in Bücher vertieft, dabei Mitte vierzig und wegen frühen Haarausfalls mit hoher Denkerstirn gesegnet. Seit ich in einem seiner Bücher aus der Ferne eine Menge Zahlen und Formeln entdeckt habe, gehe ich davon aus, dass dort ein großer Mathematiker sitzt. Sicher arbeitet er gerade an einem Beweis, der ihm zu Weltruhm gereichen wird – drei Meter von mir entfernt. Womöglich ist er aber Buchhalter für – ja für wen? Die Mafia! Jedenfalls geht er jeden Morgen noch einmal die Einnahmen der Nacht durch. Schutzgeld, Glückspiel, Waffen – er bildet gewissenhaft Summen und führt Bilanz in schwarzen Büchern. Schaut er sich denn nicht von Zeit zu Zeit so verdächtig hektisch um? Ich vermag es nicht ganz sicher zu sagen. „Jörg“ könnte ja auch nur ein Deckname sein – wer weiß?

Jedenfalls brauche ich eine neue Crew, weil die andere langweilig geworden ist. Von nun an also eine S-Bahn später, neue Linie, neue Menschen. Da bin ich mal gespannt. Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass es jetzt schon wieder so spät und ich zum aufstehen zu faul bin. Gewiss nicht.

Schaut eigentlich jemand die Videos? Ja, aber sicher doch.


Idlewild - You Held The World In Your Arms

Sonntag, September 10, 2006

Anders als gedacht

Besser als gedacht: Mutter feierte am Samstag 50-jähriges bestehen. Sie lebe hoch.

...und Nebenwirkungen

  1. Wenn man zum wiederholten Male versucht, die heimatliche Haustüre mit dem Düsseldorfer Zellenschlüssel zu öffnen, was ist dann passiert?
  2. Wenn die einzige Post, die man binnen zwei Monaten bekommt, Gehaltsabrechnungen, abonnierte Magazine und die verfluchte ADAC Motorwelt ist, hat man dann alles falsch gemacht, oder alles richtig?
  3. Wenn man mit zerschrammten Schienbeinen aufwacht, die vorher noch heil waren, was ist in der Zwischenzeit geschehen?

Ist doch schön, wenn noch Fragen offen bleiben.

Biffy Clyro - Questions & Answers

Freitag, September 08, 2006

Halbstark

Wolkenverhangene, schwülwarme Nacht. Ich stapfe schnellen Schrittes durch die Straßen. Übersteuerte Kopfhörer tragen brüchig Musik an meine Ohren, der Takt macht das Tempo. Ich bin eine Ein-Mann-Armee. Flackerlicht von Spinnennetzumwobenen Straßenleuchten macht aus dem Grau der Stadt ein krankes Gelb. Vor mir eine Kreuzung. In ihrer Mitte eine Haltestelle. Es wird kein Zug mehr fahren, aber dennoch bewegt sich dort eine sich schemenhaft gegen braune Häuserfassaden abzeichnende Gestalt.

Ich weiche den zu Spiegeln gewordenen Pfützen des Abendregens aus und komme so der Kreuzung näher, ohne die Gestalt weiter in Augenschein zu nehmen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich das, was ich für das Klischeebild einer Hure halte. Knapper Lederminirock zu hohen Stiefeln, rote Weste auf schwarzem Oberteil.

Als ich mich nach Rechts wende, weil ich vermute, dies sei der richtige Weg, dringt eine Stimme durch die Musik. Etwas, dass sich wie Babygebrabbel anhört, nur mit einer Stimme, von der man nie Babygebrabbel hören möchte. Ich höre das Wort „Junge“ heraus. Noch einmal, beinahe flehend: „Junge“. Ich entferne Kopfhörer aus den Ohren, drehe mich um und blicke auf die Mitte der Kreuzung. Dort steht das Geschöpf, was ich eben noch für eine Prostituierte hielt, etwa fünfzehn Meter entfernt.

Da steht keine Hure. Ich weiß zunächst auch nicht genau was oder wer da steht. Ich stelle nur fest, dass es wesentlich älter sein muss, als ich annahm. Graue, strähnige Haare fallen in das Gesicht, in dem sie kleben bleiben. Es ist, ja es muss eine Frau sein. Weit aufgerissene Augen starren mich aus tiefen Höhlen heraus für Sekunden an. Ich starre zurück.

Eingefallene Wangen bewegen sich und sie fährt mit diesem seltsamen Kauderwelsch fort, das ich nicht verstehe. Ihre Stimme ist laut und spröde und es scheint, als würden ihre Stimmbänder jeden Moment reißen, als seien sie so trocken, dass sie bei Reibung langsam zu Staub zerfallen würden. Die Worte die sie spricht klingen fremd und unnatürlich, so dass ich meinen Gedanken an eine andere Sprache verwerfe.

„Sorry, but i…“
Englisch als erster Versuch der Kommunikation. Englisch nachts um eins, mitten auf einer Kreuzung. Das Gemurmel setzt wieder ein. Nun intensiver, lauter. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass dieser Person womöglich alle Zähne herausgebrochen oder –gefallen sein mögen. Denn so hört es sich nun an.

„Ich kann nicht verstehen was sie sagen.“
Ich rufe langsam und in einzelnen Worten, als wolle ich ein Kind belehren. Scheinbar versteht sie mich auch nicht, denn sie fängt wieder an. Schneller, lauter. Worte beginnen sich zu wiederholen und ich beginne zu verstehen. Das ist keine Fremde Sprache. Das ist Deutsch. Oder wenigstens eine Variante davon. Ich höre die Worte „Papa“ und „nach“. „Erkrath“ glaube ich auch zu verstehen. Sie wiederholt weiter. Immer wieder verstehe ich „Junge“.

„Sie wollen zu ihrem Vater nach Erkrath?“

Ich glaube nicht, dass sie versteht, denn das Gemurmel geht weiter. Nun leiser, als würde sie zu sich selbst sprechen.

„Ihr Vater – Papa – nach Erkrath?“ Ich werde lauter. Sie sieht mich an und schweigt jetzt. Ich atme auf.

„Ich glaube nicht, dass hier heute noch ein Zug kommt.“ Ich rufe über die Straße, wie ich es beim Zivildienst mit Schwerhörigen getan habe.

Sie starrt mich weiter an und schweigt.
„Ich kann ihnen leider nicht sagen, wie sie dahin kommen. Ich kenne mich hier nämlich nicht aus.“ Keine Reaktion. Weiter mit langsamen Worten.

„Fragen sie mal dort an der Tankstelle.“ Ich deute auf die gelbe Muschel, die in der Ferne leuchtet. „Dort kann man ihnen bestimmt helfen. Ich kann es leider nicht. Es tut mir leid.“
Sie neigt den Kopf leicht. Sonst tut sie nichts.

„Ich muss jetzt weiter. Kommen sie gut nach hause.“ Sie reagiert erst, als ich mich wegdrehe und weiterlaufe. Sie beginnt wieder mit diesem Mantra, das einer Kinderfantasie entsprungen scheint und ich drücke meine Kopfhörer tief ins Ohr, um nichts hören zu können.„Junge.“ Immer wieder: „Junge.“ Das Wort trifft meinen Magen wie der Schlag einer Geisterfaust. Die Stimme wird nur langsam leiser als ich mich hastig entferne. Mir ist mit einem Mal kalt. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis oben hin zu.


Eels - Susan's House

Donnerstag, September 07, 2006

Aushilfe gesucht

Nach dem Ableben der Vorgängerin suchen wir als tatkräftige Unterstützung unseres Teams eine vorzugsweise mittelgroße, brünette Sie. Ihr Aufgabengebiet erstreckt sich von Planung und Durchführung von Baumaßnahmen bis zur Sicherung des Luftraumes auf kleinerem Gebiet (etwa 30m³). Erfahrungen im Bau von Ecknetzen sowie ein gesunder Appetit sind ausdrücklich erwünscht. Sollten sie sich von unserer Anzeige angesprochen fühlen…

Ich will eine neue Spinne – die Mücken fressen mich!

Sonntag

Im ersten Teil des Sonntages spiegelt sich die verzerrte Fratze des Samstages. Vater fährt mich gegen Abend nach Düsseldorf, weil er nett ist und der Sprit nichts kostet. Die Themen sind Wiederholungen der Hinfahrt. Alter, Tod und Geld. Dazu passt, dass es in Strömen regnet und ich auf den Moment warte, in dem der Wagen aufschwimmt und allerlei Warnleuchten darauf hinweisen, dass man nun in anderthalb Tonnen unkontrollierbarem Blech sitzt.

Zurück in der Kaserne im Wohnheim treffe ich Vorbereitungen für den Abend, sogar eine Karte packe ich peniblerweise ein, um nächtlichem Herumirren vorzubeugen. Grund dieser Vorbereitungen sind Pale, die am Abend im Zakk spielen werden.

Als ich die Straßenbahn verlasse und in Richtung des Veranstaltungsortes schreite, ruft Jonas (Name von der Redaktion erfunden) mir nach. Jonas ist ein hochgeschossener Schlacks mit Wuschelhaar und sorgsam zusammengesuchten Kleidungsstücken, die im Allgemeinen wohl unter der Bezeichnung „alternativ“ verkauft werden. Er erkundigt sich, ob die Band im kleinen oder im großen Saal spielen wird. Davon habe ich selbstverständlich keine Ahnung, dennoch stolpern wir durch ein Gespräch. Jonas ist wohl wesentlich jünger als ich dachte, er will Schule fertig machen und dann raus aus Düsseldorf, was ihm zu spießig ist. Als er fragt, ob man in meiner Heimat gut einkaufen kann, bemerke ich ein weiteres Mal mein allgemeines Kommunikationsdefizit, denn ich befremde ihn nur unnötig mit der Aussage, das letzte Mal vor einem Jahr Kleidung gekauft zu haben. Er schweigt mich zum wiederholten Male an und ist sichtlich erleichtert, als seine Freunde eintreffen und er sich von mir entfernt.

Diese Unmöglichkeit des Gesprächs zieht sich durch die letzten Monate wie eine klebrige, zähe Masse. Immer wenn Andere reden, interessiere ich mich nicht genug für Themen, um nachzufragen, zu kommentieren, Begeisterung zu zeigen oder auch nur zu heucheln. Das mag an den Themen liegen, muss es aber nicht. Umgekehrt begegnet mir, so ich etwas erzähle, von allen Seiten schweigen, was wiederum dazu führt, dass ich meine alte Einstellung wieder einnehme, lieber nichts zu sagen, bevor ich etwas sinnloses oder dummes sage. Das gilt in der Hauptsache im Praktikum, wird aber in den Alltag übernommen. Man hält mich also für einen Schweiger.

„Du sagst ja gar nichts.“
- „Oh. Naja, bei einigen Themen möchte ich mich im Moment lieber nicht einbringen.“
Auf mein Praktikumszeugnis bin ich gespannt.

Ich erinnere mich an den Geburtstag einer Bekannten, wo ich – ich muss siebzehn gewesen sein – einen ganzen Abend auf einer Party verbrachte, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ein soziales Experiment, welches am Ende nur befremdete und deprimierte. Ich wurde zum Mann, der nicht da war, ich wurde zum Geist.

Und genau der wäre ich auch jetzt wieder gern. Ein Geist. Die eine Sache, die schlimmer ist, als allein auf ein Konzert zu gehen, ist, allein auf ein Konzert zu gehen und viel zu früh zu kommen. Ich drücke mich an Wänden herum, probiere Sitzgelegenheiten, gebe vor, Plakate zu lesen und starre ins Leere oder auf Menschen. Der Zweihundertmeterblick, der zumeist als traurig oder ernst ausgelegt wird – man wird tatsächlich darauf angesprochen. Die Zeit kriecht.

Die Vorband mag ich anfangs gern, dann nervt sie jedoch schnell, weil sie ein und dasselbe Lied in zigfacher Wiederholung zu spielen scheint. Pale hingegen machen Spaß. Ich finde toll, wie sich der Sänger bewegt und humorvolle Beiträge zwischendurch runden die Sache ab. Ich lehne eng an einem Pfeiler, um mein geschundenes rechtes Ohr nicht mit voller Musiklast zu befeuern, denn es piept ohnehin noch genug von Freitag.

Als bei einem langsamen Song die Diskokugel die Projektion einer imaginären Explosion ihrer selbst in den Raum wirft, bin ich – trotz aufleuchtendem Kitschalarm – schlicht begeistert. Ich denke seltsamerweise an Cape Canaveral, verschobene Starts und verglühende Fähren. Ich ziehe Parallelen zu mir, dem Leben und mag mich in diesem Moment selbst für meine Gedanken.

Ich breche noch vor der Zugabe auf, denn Bahnen warten nicht. Die Funken, die der Stromabnehmer bei Kontaktwechseln wirft, sind nur ein kleines, sichtbares Zeugnis der Energie, die in der Luft liegt. Nach einer halbstündigen Fahrt quer durch die Stadt laufe, renne und tanze ich in mein Zimmer.

Ende des Subjektivwochenendprojektes. Weiter im normalen Betrieb.