Dienstag, September 12, 2006

Unsinn um 2 Uhr

Euch will ich nicht mehr sehen. Dich nicht, Mahatma, dich auch nicht, Olga und Jörg, du kannst mir gestohlen bleiben. Bitte weitersagen.

Ich muss mich erklären. Es geht um Fortbewegung – nicht Fortbewegung von Menschen – sondern Fortbewegung mit Menschen, genauer gesagt geht es um die S-Bahn, die ich im Grunde eigentlich sehr mag – dazu ein andern Mal vielleicht mehr. Ich mag nur sie nicht mehr sehen, die Menschen, mit denen ich mir jeden Tag einen Wettbewerb im eisernen Schweigen liefere. Es müssen neue her.

Es beginnt schon vor der S-Bahn: Die alte Dame, deren schlohweißes Haar an den Spitzen leicht ins gelb übergeht – ich mache dafür das Nikotin verantwortlich – wird sich wie sonst jeden Tag an der Haltestelle mit rasselnder Stimme eine Zigarette schnorren, ihre Beute vornübergebeugt in eine Ecke schleppen um sie dort in hastigen Zügen aufzurauchen. Das mag ich nicht mehr sehen.

Zwei Sitzreihen weiter wird Mahatma sitzen, der mit seinem dürren Körperbau, der Glatze und der Nickelbrille aussieht, wie eine zu groß geratene Kopie von Gandhi. Kann man damit etwas anfangen - so auszusehen wie Gandhi? Also Supermärkte einweihen geht schon mal nicht. In der Fußgängerzone wären mit einer Gitarre sicher ein paar Euro drin, weil senile Herrschaften sich an den schönen Film erinnern, den sie für eine Reportage hielten und sich wundern, wie es den netten älteren Herren in ihre Heimat verschlagen konnte. Aber vermutlich ist er einfach nur Beamter in einem kleinen Büro, in dem er sich mit seinen zwei Metern immer ducken muss, damit er sich die Stirn nicht am Türrahmen aufschlägt.

Olga hat die sechzig wohl schon länger überschritten. Ein faltiges Gesicht, das von einem Kopftuch umrahmt wird, wenigstens dann, wenn es kalt ist. Ich kann mir keinen Reim auf die Art ihrer Beschäftigung machen. Jetzt das typische Klischee der osteuropäischen Putzfrau zu bemühen wäre sicher nicht ganz abwegig, aber ich habe mich mit mir darauf geeinigt, dass sie wohl einfach nur einkaufen fährt. Zum Markt, denn in ihrer großen groben Ledertasche verbirgt sie sicher noch zwei Tragenetze, mit denen sie allerlei frisches Gemüse – auch die Sorten, von denen ich noch nicht einmal gehört habe – nach hause transportiert.

Jörg gibt ebenfalls Rätsel auf. Er ist immer in Bücher vertieft, dabei Mitte vierzig und wegen frühen Haarausfalls mit hoher Denkerstirn gesegnet. Seit ich in einem seiner Bücher aus der Ferne eine Menge Zahlen und Formeln entdeckt habe, gehe ich davon aus, dass dort ein großer Mathematiker sitzt. Sicher arbeitet er gerade an einem Beweis, der ihm zu Weltruhm gereichen wird – drei Meter von mir entfernt. Womöglich ist er aber Buchhalter für – ja für wen? Die Mafia! Jedenfalls geht er jeden Morgen noch einmal die Einnahmen der Nacht durch. Schutzgeld, Glückspiel, Waffen – er bildet gewissenhaft Summen und führt Bilanz in schwarzen Büchern. Schaut er sich denn nicht von Zeit zu Zeit so verdächtig hektisch um? Ich vermag es nicht ganz sicher zu sagen. „Jörg“ könnte ja auch nur ein Deckname sein – wer weiß?

Jedenfalls brauche ich eine neue Crew, weil die andere langweilig geworden ist. Von nun an also eine S-Bahn später, neue Linie, neue Menschen. Da bin ich mal gespannt. Und nein, das hat nichts damit zu tun, dass es jetzt schon wieder so spät und ich zum aufstehen zu faul bin. Gewiss nicht.

Schaut eigentlich jemand die Videos? Ja, aber sicher doch.


Idlewild - You Held The World In Your Arms

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

DANKE!
fürs aus der seele sprechen:)

Nils hat gesagt…

bitte.

heute war ich eine bahn später dran und die war leer. nur ein schüler, der seine hausaufgaben noch schnell vor schulbeginn erledigte...sehr erholsam.