Halbstark
Wolkenverhangene, schwülwarme Nacht. Ich stapfe schnellen Schrittes durch die Straßen. Übersteuerte Kopfhörer tragen brüchig Musik an meine Ohren, der Takt macht das Tempo. Ich bin eine Ein-Mann-Armee. Flackerlicht von Spinnennetzumwobenen Straßenleuchten macht aus dem Grau der Stadt ein krankes Gelb. Vor mir eine Kreuzung. In ihrer Mitte eine Haltestelle. Es wird kein Zug mehr fahren, aber dennoch bewegt sich dort eine sich schemenhaft gegen braune Häuserfassaden abzeichnende Gestalt.
Ich weiche den zu Spiegeln gewordenen Pfützen des Abendregens aus und komme so der Kreuzung näher, ohne die Gestalt weiter in Augenschein zu nehmen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich das, was ich für das Klischeebild einer Hure halte. Knapper Lederminirock zu hohen Stiefeln, rote Weste auf schwarzem Oberteil.
Englisch als erster Versuch der Kommunikation. Englisch nachts um eins, mitten auf einer Kreuzung. Das Gemurmel setzt wieder ein. Nun intensiver, lauter. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass dieser Person womöglich alle Zähne herausgebrochen oder –gefallen sein mögen. Denn so hört es sich nun an.
Ich rufe langsam und in einzelnen Worten, als wolle ich ein Kind belehren. Scheinbar versteht sie mich auch nicht, denn sie fängt wieder an. Schneller, lauter. Worte beginnen sich zu wiederholen und ich beginne zu verstehen. Das ist keine Fremde Sprache. Das ist Deutsch. Oder wenigstens eine Variante davon. Ich höre die Worte „Papa“ und „nach“. „Erkrath“ glaube ich auch zu verstehen. Sie wiederholt weiter. Immer wieder verstehe ich „Junge“.
Ich glaube nicht, dass sie versteht, denn das Gemurmel geht weiter. Nun leiser, als würde sie zu sich selbst sprechen.
„Ihr Vater – Papa – nach Erkrath?“ Ich werde lauter. Sie sieht mich an und schweigt jetzt. Ich atme auf.
„Ich glaube nicht, dass hier heute noch ein Zug kommt.“ Ich rufe über die Straße, wie ich es beim Zivildienst mit Schwerhörigen getan habe.
Sie starrt mich weiter an und schweigt.
„Ich kann ihnen leider nicht sagen, wie sie dahin kommen. Ich kenne mich hier nämlich nicht aus.“ Keine Reaktion. Weiter mit langsamen Worten.
„Fragen sie mal dort an der Tankstelle.“ Ich deute auf die gelbe Muschel, die in der Ferne leuchtet. „Dort kann man ihnen bestimmt helfen. Ich kann es leider nicht. Es tut mir leid.“
Sie neigt den Kopf leicht. Sonst tut sie nichts.
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