Freitag, September 08, 2006

Halbstark

Wolkenverhangene, schwülwarme Nacht. Ich stapfe schnellen Schrittes durch die Straßen. Übersteuerte Kopfhörer tragen brüchig Musik an meine Ohren, der Takt macht das Tempo. Ich bin eine Ein-Mann-Armee. Flackerlicht von Spinnennetzumwobenen Straßenleuchten macht aus dem Grau der Stadt ein krankes Gelb. Vor mir eine Kreuzung. In ihrer Mitte eine Haltestelle. Es wird kein Zug mehr fahren, aber dennoch bewegt sich dort eine sich schemenhaft gegen braune Häuserfassaden abzeichnende Gestalt.

Ich weiche den zu Spiegeln gewordenen Pfützen des Abendregens aus und komme so der Kreuzung näher, ohne die Gestalt weiter in Augenschein zu nehmen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich das, was ich für das Klischeebild einer Hure halte. Knapper Lederminirock zu hohen Stiefeln, rote Weste auf schwarzem Oberteil.

Als ich mich nach Rechts wende, weil ich vermute, dies sei der richtige Weg, dringt eine Stimme durch die Musik. Etwas, dass sich wie Babygebrabbel anhört, nur mit einer Stimme, von der man nie Babygebrabbel hören möchte. Ich höre das Wort „Junge“ heraus. Noch einmal, beinahe flehend: „Junge“. Ich entferne Kopfhörer aus den Ohren, drehe mich um und blicke auf die Mitte der Kreuzung. Dort steht das Geschöpf, was ich eben noch für eine Prostituierte hielt, etwa fünfzehn Meter entfernt.

Da steht keine Hure. Ich weiß zunächst auch nicht genau was oder wer da steht. Ich stelle nur fest, dass es wesentlich älter sein muss, als ich annahm. Graue, strähnige Haare fallen in das Gesicht, in dem sie kleben bleiben. Es ist, ja es muss eine Frau sein. Weit aufgerissene Augen starren mich aus tiefen Höhlen heraus für Sekunden an. Ich starre zurück.

Eingefallene Wangen bewegen sich und sie fährt mit diesem seltsamen Kauderwelsch fort, das ich nicht verstehe. Ihre Stimme ist laut und spröde und es scheint, als würden ihre Stimmbänder jeden Moment reißen, als seien sie so trocken, dass sie bei Reibung langsam zu Staub zerfallen würden. Die Worte die sie spricht klingen fremd und unnatürlich, so dass ich meinen Gedanken an eine andere Sprache verwerfe.

„Sorry, but i…“
Englisch als erster Versuch der Kommunikation. Englisch nachts um eins, mitten auf einer Kreuzung. Das Gemurmel setzt wieder ein. Nun intensiver, lauter. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass dieser Person womöglich alle Zähne herausgebrochen oder –gefallen sein mögen. Denn so hört es sich nun an.

„Ich kann nicht verstehen was sie sagen.“
Ich rufe langsam und in einzelnen Worten, als wolle ich ein Kind belehren. Scheinbar versteht sie mich auch nicht, denn sie fängt wieder an. Schneller, lauter. Worte beginnen sich zu wiederholen und ich beginne zu verstehen. Das ist keine Fremde Sprache. Das ist Deutsch. Oder wenigstens eine Variante davon. Ich höre die Worte „Papa“ und „nach“. „Erkrath“ glaube ich auch zu verstehen. Sie wiederholt weiter. Immer wieder verstehe ich „Junge“.

„Sie wollen zu ihrem Vater nach Erkrath?“

Ich glaube nicht, dass sie versteht, denn das Gemurmel geht weiter. Nun leiser, als würde sie zu sich selbst sprechen.

„Ihr Vater – Papa – nach Erkrath?“ Ich werde lauter. Sie sieht mich an und schweigt jetzt. Ich atme auf.

„Ich glaube nicht, dass hier heute noch ein Zug kommt.“ Ich rufe über die Straße, wie ich es beim Zivildienst mit Schwerhörigen getan habe.

Sie starrt mich weiter an und schweigt.
„Ich kann ihnen leider nicht sagen, wie sie dahin kommen. Ich kenne mich hier nämlich nicht aus.“ Keine Reaktion. Weiter mit langsamen Worten.

„Fragen sie mal dort an der Tankstelle.“ Ich deute auf die gelbe Muschel, die in der Ferne leuchtet. „Dort kann man ihnen bestimmt helfen. Ich kann es leider nicht. Es tut mir leid.“
Sie neigt den Kopf leicht. Sonst tut sie nichts.

„Ich muss jetzt weiter. Kommen sie gut nach hause.“ Sie reagiert erst, als ich mich wegdrehe und weiterlaufe. Sie beginnt wieder mit diesem Mantra, das einer Kinderfantasie entsprungen scheint und ich drücke meine Kopfhörer tief ins Ohr, um nichts hören zu können.„Junge.“ Immer wieder: „Junge.“ Das Wort trifft meinen Magen wie der Schlag einer Geisterfaust. Die Stimme wird nur langsam leiser als ich mich hastig entferne. Mir ist mit einem Mal kalt. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis oben hin zu.


Eels - Susan's House

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