Samstag, August 26, 2006

Hin und wieder zurück

Um 4:45 Uhr falle ich aus dem Bett. Der Wecker. Die Wecker. Erst der eine, dann der andere schreien unerbittlich, dass ich endlich aufstehen soll. Ich taumle mit taubem Kopfgefühl unter die Dusche, wonach es mir besser geht. Banane auf den Weg und mit der leeren Straßenbahn zum Hauptbahnhof. Da weiter zum Flughafen.

In der Schlange vor dem Check-In herrscht die gewohnte Pauschalurlaubsstimmung: Stress. Mit dem Unterschied, dass das hier Linie ist und die Personalien sich weitgehend vom Strandbadetuchvierzehntagelieger unterscheiden. Dennoch gibt es Szenen, wie man sie sonst nur zu Kriegszeiten oder plötzlicher Nahrungsverknappung für möglich hält. Das, obwohl man dazu übergegangen ist, das wesentlich gerechtete Anstellsystem zu verwenden, nach dem alle Ankommenden in einer Schlange auflaufen und sich an deren Ende wieder auf die einzelnen Check-In-Terminals verteilen. Dennoch muss eine Reisende ihrem naturgegebenen Autoritätstrieb nachgeben und beginnt mit ausgestreckten Armen die Masse zu dirigieren. Dabei wird sie gern auch mal ein wenig nachdrücklicher, weil es der ältere Herr nicht sofort versteht, dass dort drüben ein „verdammter Schalter freigeworden ist.“

Ich muss feststellen, dass ich mal wieder übervorsichtig war und viel zu viel Zeitpuffer eingerechnet habe, so dass ich noch eine Stunde im aschgrauen neonbeschienenem Wartesaal verbringe, bis ich in den Flieger klettere. Ich bin froh, festzustellen, dass die Kommandierfrau nicht mit mir fliegt.

Neben mir, also auf Sitz 7b, sitzt Dolph Lundgren. Nun, vielleicht ist es der kleine Bruder von Dolph Lundgren – mit weniger Muskeln. Ich taufe ihn Rolf, weil das schön passt. Weil Rolf nichts sagt und ich ihm auch nichts mitzuteilen habe, schlafe ich irgendwo auf dem Taxiway ein und erfahre so erst später in Gesprächen entnervter Mitreisender von den fünfzig langen Minuten, in denen wegen Nebel nicht gestartet werden konnte. Düsseldorf halt.

Ich erwache als der Propeller, der sich etwa einen Meter zu meiner linken bis zur Unsichtbarkeit schnell dreht, aufheult und das Flugzeug zum Start beschleunigt. Ich schaue aus dem Fenster und wundere mich, warum mir diese Legowelt da unten immer wieder so gefällt. Das hat keineswegs mit Allmachtsphantasien zu tun. Vielmehr geht es darum, dass überall so unglaublich viel Leben ist.

Rolf schert das alles recht wenig. Der Zweimeterbrocken macht sich mächtig breit und klopft mir plötzlich eifrig auf die Schulter, weil er denkt, ich sei wieder eingeschlafen. Die Flugbegleiterin reicht Getränke und ich nehme einen Orangensaft, während der Rest des Flugzeuges sich an Tomatensaft mit Salz und Pfeffer labt. Ich schiele zu Rolf. Er liest in einem Magazin erst einen Artikel über Speedboatfahren im Nahen Osten, dann einen über Lifting für die Füße. Ich stelle mir Rolf auf einer weißen Yacht mit verbundenen Füßen vor. Das passt. Wir landen.

Im Fahrstuhl des Flughafens lerne ich Daniel kennen. Ich weiß nicht, ob er wirklich Daniel heißt, aber ich denke, er würde einen guten Daniel abgeben. Daniel ist einen Kopf größer als ich, wiegt wohl etwa das Doppelte, trägt zu blauem Sweatshirt eine blaue Hose, an der wiederum eines dieser Kneifzangenmultifunktionswerkzeuge befestigt ist. Ich habe einen Verdacht.
„Auch zur Games Convention?“
- „Ja, klar. Einmal im Leben muss man das ja gemacht haben.“
Als er mir dann auf dem Weg zur Messe erklärt, dass er einen Lufthansa Freiflug – den dritten Flug seines Lebens – für den heutigen Tag aufgebraucht und gleichzeitig einen wichtigen Lehrgang – er ist Elektromechatroniker bei Audi – hat sausen lassen, fühle ich mich schlecht. Ich bin hier einfach nur so. Gratis. Aus Spaß. Ich beschließe, sehr nett zu Daniel zu sein.

Hallo Games Convention. Oder sollte ich sagen: Hallo Convention. Ja, wo waren sie denn, meine Games? Sicher, da gab es ja allerhand Spiele für allerhand Systeme, aber im Grunde waren das alles nur Updates, Klone oder leichte Abwandlungen von vorhandenen Schemata. Warum bitte muss ich dem Mann im Park den Kopf wegschießen, anstatt mit ihm auf der Bank dort hinten Platz zu nehmen und mein Erndussbuttersandwich mit ihm zu teilen? Das heißt nicht, dass ich ihm nicht den Kopf wegschießen können sollte. Ich möchte beides tun können. Ballern oder Erdnussbutter, ja sogar ballern mit Erdnussbutter. Entscheidungen müssen her. Alles Statische ist langweilig. Aber so lange man die Kids noch immer mit den neuesten Explosionen und Blutfontänen begeistern kann, wird sich da wohl in absehbarer Zeit nicht viel tun.

Der Trend geht eindeutig zum Nerdtum. Tapfere Kreaturen, die aus dem grellen Sonnenlicht schnell in die wunderbar düsteren Messehallen abtauchen. Menschen, die sich für in die Menge geworfene Schlüsselbänder beinahe umbringen, apathisch an Konsolen stehen, alles mit dem Handy abfotografieren, sich als ihre jeweiligen Helden verkleiden - ich mochte den Eineinhalbmeter großen mexikanischen Wrestler. Menschen, die sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit von ihren Freunden, Vätern oder Söhnen mit knapp bekleideten Damen fotografieren lassen, wobei es jedes Mal so aussieht, als würde das Auge des Fotografen jeden Moment vorn aus der Linse fallen, weil er die Kamera so dicht an das verschwitzte Gesicht drückt.

Das führt auch direkt zur nächsten Gruppe. Die „Babes“. So heißen sie wirklich offiziell. „Babes“. „Babes“ sind Mädchen oder Frauen mit einem geschätzten Altersdurchschnitt von unter 18 und einem geschätzten Brustumfang von über Naturbelassen. Ich stelle es mir ja auch irgendwo toll vor, wenn man den ganzen Tag für seinen Körper bewundert wird – leider werde ich das nicht – aber man muss sich am Ende des Tages doch unglaublich leer vorkommen. Die Masche zieht aber – trotz unverkennbarer Differenzen zwischen Produkt und „Babe“ - wirklich ungemein und sobald ein „Babe“ auftaucht, werden Digitalkameras und Handys nach oben gerissen. Es scheint, als sei ich der einzige, der irgendwo ein Gefühl der Schuld oder Scham empfindet, weil meine bloße Anwesenheit eine normale Messehostess um vier Pfund Kleidung erleichtert und aus ihr ein „Babe“ macht. Womöglich ist das aber auch mein ganz persönliches Über-Ich-Problem. Demnächst also auch ein paar halbnackige „Bobs“ dazustellen und schon können alle Parteien unbeschwert glotzen.

Meine Beine beginnen nach stundenlangem Herumrennen zu schmerzen und scheinbar wird auch eines von beiden zunehmend kürzer: Ich laufe im Kreis. Doch nein, ich laufe nicht im Kreis. Ich bin fertig. Einmal alles gesehen. Mh. Das ging schnell. Ein zweites Mal genauer hinsehen. Mh. Geht ebenso fix. Hatte ich mir größer vorgestellt. Ich drücke mich noch eine Weile herum, probiere zwei Spiele, für die ich nicht eine halbe Stunde anstehen muss, dann gehe ich.
Fazit: Viel Wind um nicht viel.

Ich sitze am Flughafen und verbessere als Hausarbeitenschlussmann die Teile meiner Kommilitonen, als Daniel herangetrottet kommt. Auch er ist enttäuscht und das tut mir aufrichtig Leid für ihn. Einen Fußball hat er gefangen und einen der Rasierer, auf die sich all die bartlosen zwölfjährigen stürzten, hat er auch. Er berichtet von einer Pain-Maschine, bei der es scheinbar darum geht, mehr Strafschmerzen für schlechtes Spiel auszuhalten, als der Gegner. Er behauptet, sogar von den Organisatoren für seine ausgesprochene Schmerzresistenz gelobt worden zu sein. Ich lobe auch. Naja, fast.

Daniel schafft es zu meiner Beunruhigung, den Rasierer, samt aller vier Klingen durch die pseudostrenge Sicherheitskontrolle („Jetzt auch mal den Gürtel ausziehen!“) zu bringen und im Flieger sitzt neben mir, weil Rolf sich nun eine Reihe vor mir breitmacht, ein ebenso gesichts-, wie sprachloser Mann. Gerade als ich dabei bin, mich in die Flugbegleiterin zu verlieben, landen wir.

Ich warte auf meinen Anschluss nach „Hause“ und beobachte Mäuse, die ein wildes Hin- und Hergewusel auf der Freifläche zwischen zwei Haltestellenhäuschen veranstalten. Ich sitze so still, dass sich eine von ihnen bis auf wenige Zentimeter an meinen Fuß heranwagt (ich tippe auf Käsegeruch…), als der Kappenmann interveniert. Die Maus verschwindet.
„Bist du hier Einheimischer?“
Zum Kappenmann gehören zwei etwa zwanzigjährige im Minirock, jeweils ausgestattet mit einer weit geleerten Flasche Sekt.
„Nein. Vielleicht kann ich dennoch helfen?“
Er will zum Hafen. Ich gebe eine wilde Beschreibung, sage dann aber, dass ich ihm auch großen Unsinn erzählt haben kann und er doch besser die alte Dame zu dort hinten fragen sollte. Während er das tut, beugt sich eine der Sektflaschenbesitzerinnen zu mir herunter.

„Was hörst du denn da? Darf ich mal?“
Sie zieht den Kopfhörer aus meinem Ohr und steckt ihn in ihres.
„Das ja voll geil! Hier, hör auch mal!“
Der zweite Kopfhörer wandert zu ihrer Freundin.
„Wer iss’n das?"
- „Das sind At The Drive-In.“
“Die kenn ich gar nicht."
- „Haben sich auch 2001 aufgelöst.“
„Wie, die gibt’s gar nicht mehr?“
- „Nein, aufgelöst, wie gesagt.“
„Das’s ja dann oldschool. Voll cool. Sowas hörst du dir so lange an? Du musst mir den MP3-Player mal leihen.“
- „Den brauch ich selbst noch. Aber wie gesagt - At The Drive-In – kannst dir ja mal ne CD von denen kaufen, wenn du es magst.“
- „CD? Von denen gibt’s noch ne CD? Ich dachte, die hätten sich aufgelöst.“
„Ja, klar. Stimmt schon. Aber CDs gibt’s doch auch von Bands, die es nicht mehr gibt.“

Sie setzt sich neben mich und tut auf einmal seltsam interessiert. Am Ende des zweiminütigen Gesprächs weiß sie von mir, was ich in Düsseldorf tue und was ich Studiere. Ich weiß, dass sie Speditionskauffrau ist und kein Abi hat. Danach habe ich nicht gefragt, dennoch ist „das jetzt unser kleines Geheimnis“. Hiermit gebrochen. Verzeihung. Als die Bahn kommt, wirft sie alles Durcheinander, indem sie mir viel Spaß bei meinem Studium in Düsseldorf wünscht. Ich wünsche viel Spaß am Hafen.

Was für ein seltsames Ende für einen Tag. Als ich in die Wohnung gehe, beginnt es zu regnen. Da ist er ja wieder, der rote Faden.

Godspeed You! Black Emperor - Sleep

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