Donnerstag, Oktober 19, 2006

Mittelstrahl im Mittelfeld

Der Ort niederer Bedürfnisse ist ein Ort der Sauberkeit. Weißgekachelte Wände reflektieren Licht aus in die Decke eingelassenen Halogenstrahlern, der grau melierte Boden ist leicht angeraut. Rutschfest auch in Notfällen. Cremefarbene Waschbecken werden von einem dunkelroten Waschtisch eingefasst, dahinter Spiegel in Zweimeterbreite.

Eigentlich hoffe ich, allein zu sein. Das hoffe ich öfter, aber beim Besuch von öffentlichen Toiletten ist es nur allein wirklich am Schönsten. Für all jene, die Herrenklos nur aus Versehen oder Filmen kennen sei hierzu gesagt, dass es sich um einen Ort des Schweigens handelt. Ein Zentrum der Meditation, in dem es einzig um eine schnelle Erleichterung geht, welcher Art auch immer. Außerdem ist dies der Ort, an dem – nun ja – die Karten auf den Tisch gelegt werden. Es ist nicht so, dass ein offizielles Lattenmessen veranstaltet wird, aber es lassen sich zum Teil schon wandernde Blicke feststellen.

Dagegen gibt es Toiletten mit Sichtschutz, aber die sind selten. Außerdem ist das eine Sache für Weichprinten. Ja, die gibt es auch hier: Weichprinten. Das sind dann jene Herren, die sich auch für kleine Geschäfte auf die hinter Trennwänden der Kabinen verborgenen Tiefspüler zurückziehen. Dort weht aber gemeinhin ein rauer Wind, ist doch der Umgang mit der Klobürste einigen nur in der Theorie vertraut.

An den Pissoirs wird gemeinhin immer mindestens eines als Abstand gelassen. Dies ist ein so natürlicher Prozess, dass darüber nachzudenken wäre, für jedes zweite Pissoir eine Attrappe aus Pappmache herzustellen um Kosten einzusparen. Selten findet man auch „Pinkelrinnen“, deren Umgebung allerdings nur in Ausnahmefällen sauber sind, so dass man besser im Vorhinein kontrolliert, ob die Hose nicht vielleicht an den Boden herabreicht.

Genug der Erklärung, zurück zur Situation und damit zurück zu mir. Mittlerweile habe ich den Waschbereich der Vodafonetoilette durchmessen und steuere nun auf das Mekka der Blasenschwachen zu. Dass ich nicht allein bin, melden meine Augenwinkel fast augenblicklich beim Betreten des Raumes. Ein schwarzer Schatten lehnt an der Wand zu meiner Linken. Dort, bei den Pissoirs. Als ich den Kopf wende, wird aus dem schwarzen Schatten ein schwarzer Anzug und schließlich ein Mann, der in diesem Anzug steckt.

Freihändig ist sicher die größte Kunst des Toilettengangs. Dieser Mann lehnt dort, die linke Hand als Stütze an der Wand, in der Rechten sein Blackberry und liest eine Email oder sonst etwas, während er gerade beginnt, das Porzellan zu wässern. Ich bin beeindruckt und besorgt zugleich, denn es gibt nur zwei Pissoirs, also keinen Puffer zwischen uns und ich werde mich wohl auf die Freihandkünste dieses Mannes verlassen müssen.

Als er meine Schritte hört, verschwindet das Blackberry in der Anzugtasche und die Hand ist dort, wo sie eigentlich hingehört. Ich bin erleichtert. Während ich den Gürtel öffne, höre ich hinter mir, wie kleine Festkörper die Wasseroberfläche durchschlagen. Dazu die Geräusche von Herumrutschen auf Ledersofas. Ich erinnere die rote Markierung am Schloss einer der beiden Toiletten. Wir sind also zu dritt. Sehr schön.

Mittlerweile bin ich vorbereitet und es dürfte jetzt auch eigentlich losgehen. Der Anzugmann hat kurz seinen kritischen Blick zu mir Schweifen lassen und ich wäre dann jetzt so weit. Also bitte: Wasser Marsch! Auf Auf! Herrje. Da tut sich nichts.

Das ist das Problem, wenn es kein „ich muss mal eben dringend“-Klobesuch ist, sondern einer der Marke „ich geh mal vorsichtshalber“. Vorsichtshalber setzt sich aus den beiden Faktoren „einstündiges Meeting in fünf Minuten“ und „ein halber Liter Apfelschorle in der letzten Stunde“ zusammen. Also bitte, konzentrier dich jetzt mal.

Mit Konzentration ist es nicht weit her. Konzentration macht Urlaub in Schottland. Genauer gesagt ist sie gerade am Flughafen. Jawohl. Glasgow Prestwick International Airport. Einer jener Flughäfen, die, irgendwann in den Dreißigern gebaut, nicht mehr dem Verkehrsaufkommen heutiger Tage begegnen konnten und so brach lagen, bis die Billigfluglinien sich nach Standortalternativen umsahen, an denen sie ihre Hubs hochziehen konnten+.

Glasgow Prestwick liegt eine Dreiviertelstunde von Glasgow entfernt, trotz des Namens. Ich habe die zu jener Zeit noch eher laschen Sicherheitskontrollen hinter mir und sitze in der Wartehalle vor einem der beiden übrig gebliebenen Gates auf Mobiliar, das seine Glanzzeit wohl in den siebziger Jahren hatte. Schön ist auch, dass Teppich ausliegt, dessen Farbe sich am besten mit einem Olivton beschreiben lassen würde. Er dämpft die Schritte und das Schreien der herumtobenden Kinder.

Ich kaue gerade auf dem für das letzte großbritische Kleingeld erstandenen Schokoriegel herum und beobachte Menschen. Merkwürdig, dass Billigfluglinien so ziemlich alle Menschen an einen Ort bringen. Vom Fußballverein der schottischen Jungen mit den abstehenden Ohren bis zu dem bulligen Mann im Anzug mit obligatorischem Laptop auf dem Schoß.

Ein wenig abseits sitzen drei Männer in Anzügen, die sich angeregt unterhalten. Der kleinste der drei ist ein wenig rundlicher gebaut, das braune Sakko und die Halbglatze erinnern an Danny de Vito. Er hat einen Koffer neben sich stehen, auf dem eine Hand liegt, so, als müsse er ihn beschützen. Der zweite in der Runde ist ein Hüne, der sicher zwei Meter misst. Der mit Abstand älteste der drei hat sein graues Haar zu einem strengen Seitenscheitel gezwungen und sitzt mit versteinerter Mine, was ihn bei seinen Gesichtszügen nicht gerade freundlich wirken lässt.

Den dritten Mann kann ich nicht erkennen, denn er sitzt mit dem Rücken zu mir. Er ist schmächtig und wirkt im Vergleich zu seinen Tischnachbarn deutlich harmloser, was vermutlich daher rührt, dass sein Anzug mindestens zwei Nummern zu groß ist und ihn wie einen Konfirmanten wirken lässt. Beide, der Schmächtige und der Hüne, hören den Ausführungen de Vitos zu, der dazu wild mit der freien Hand gestikuliert, während die andere stets auf dem Koffer ruht.

Ein seltsames Gespann, das überhaupt gar nicht in diese Umgebung passen will. Wer mögen die sein? Geschäftspartner? Bankräuber? Mafia? Mein Blick hat einen neuen Fixpunkt und meine verschwörungstheoretischen Ansätze werden von der Durchsage gestört, dass der Flug nach Rom nun bereit zum boarding sei. Einige Unruhe macht sich in der Wartehalle breit als genervte Mütter und cholerische Väter ihren Nachwuchs für den Aufbruch gen Süden zusammenrufen. Dies scheint auch dem schmächtigen Verschwörer aufzufallen, denn er wendet seinen Kopf um einen Blick auf das Treiben zu werfen. Ich erkenne das Profil und verschlucke mich fast am letzten Bissen meines Schokoriegels. Das ist doch? Nein, das kann doch nicht… Bestimmt nicht.

Aber ich möchte doch sicher sein. Darum wechsele ich den Platz. Näher heran, ein besserer Winkel, weil ja grad Platz ist, wegen Rom. Ja, das könnte er tatsächlich sein. Aber wer sind dann diese Männer? Es bleibt immer noch seltsam und ich mag nicht recht daran glauben, bis ein Vater seinen fünfjährigen Sprössling mit einem Filzschreiber und T-Shirt zu jenem Mann schickt. Ich habe keine Zeit, mich zu wundern, warum man die Ausrüstung für eine spontane Autogrammstunde an einem Flughafen mitführt, denn der Mann nimmt beides, unterschreibt und reicht es dem Jungen zurück. Jetzt ist es gewiss. Ich hatte Recht.

Die gleiche knarzige Stimme von eben ruft nun dazu auf, die Passagiere nach Weeze mögen sich bereithalten. Dazu gehöre auch ich und weil Flugzeugtoiletten kein besonders schöner Platz sind, beschließe ich, noch einmal auf schottischem Gebiet eine Marke zu hinterlassen. Zwischen mir und dem Sanitärbereich steht die Schlange nach Rom und ich brauche einige Zeit und reichlich Überzeugungskraft, dass ich mich nicht vordrängeln möchte, um die Schlange durchmessen und auf die Tür mit dem männlichen Piktogramm zusteuern zu können. Kurz bevor ich die Tür zum stillen Ort aufstoßen kann, kommt mir jemand zuvor. Ich beiße mir fast auf die Zunge, denn vor mir betritt der hagere Autogrammgeber den Raum.

Mir fällt auf, dass er einen guten Kopf kleiner ist als ich, denn ich blicke von oben auf schütteres Haar. Er schreitet unerkannt durch den Waschbereich und stellt sich entschlossen vor das letzte freie Pissoir. Keine fünf Sekunden später verlässt der Herr zu seiner Rechten den Nachbarplatz. Das ist nun meiner. Ich stelle mich neben den Mann, der mittlerweile schon in Startposition ist. Ich kann meinen Gürtel nur mit zittrigen Händen öffnen und das Grinsen wird wohl länger nicht aus meinem Gesicht verschwinden bei all der Absurdität dieser Szene. Neben mir beginnt das Plätschern und ich wage es nicht, hinzusehen. Ich wäre dann auch soweit. Aber da tut sich nichts. Tote Hose, sozusagen. Ich befehle meiner Blase, endlich loszulassen und sich zu entspannen. Aber wenn das Zwerchfell grad irre Lust auf lautes Lachen hat, ist das leichter gesagt als getan.

So stehe ich also und es passiert einfach nichts. Ich zähle die Sekunden, versuche, langsam zu Atmen, mich zu beruhigen, damit dieser einigermaßen peinliche Moment doch nun endlich vorübergehen möge. Es hilft nichts. Ich stehe etwa eine halbe Minute da, ohne dass sich irgendetwas tut. Mein linker Nachbar hat da mehr Erfolg. Nach langem Geplätscher versiegt der schier unerschöpfliche Quell schließlich und er bringt sich und seinen Hosenstall wieder in den Originalzustand. Ich stehe noch immer da – einfach so. Das breite Grinsen und das trockene Pissoir. Ein komisches Bild. Er betätigt die Klospülung und verschwindet zu den Waschbecken. Das ist der Moment, in dem sich etwas in mir löst: Wasser marsch.

Ich bitte um Verständnis. Ich habe generell keine Probleme beim Harnlassen. Es gibt jedoch Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen ist, das musste ich seinerzeit feststellen, pinkeln mit Berti Vogts.

Es reicht sogar die Erinnerung an diesen Moment um wieder alles ins Stocken zu bringen. Ich erwache aus meiner Erinnerung, als der Blackberrymann neben mir sich einen dummen Spruch nicht verkneifen kann:
„Na, wohl keinen Druck auf der Leitung, was?“
Ich antworte nicht. Der Mann verlässt den Raum und die Automatik beginnt den Spülvorgang. Das ist meine Erlösung. Na bitte, läuft doch.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

es stimmt also doch. ich kenne das ja nur aus irgendwelchen filmen. auch wenn ich desoefteren maennertoiletten benutze. hm hm. jaja. woher ruht nun dies phaenomen? evolutionsbedingt? kann doch nich sein. hat er einen groesseren, laengeren, ehm.. schoeneren..?... also ist mein pinkelnachbar der potentiell bessere mann fuer all die frauen, die ausserhalb der toiletten darauf warten, ein gentechnisch einwandfreies kind von mir gezeugt zu bekommen? haeh?

du hast doch nicht wirklich neben berti vogts gepinkelt? das ist definitiv die interessantere geschichte fuer deine enkel in spe.

Anonym hat gesagt…

ich muss ja zugeben, dass mir männliche pinkelprobleme recht seltsam anmuten. seltsam aber amüsant. ^^

Nils hat gesagt…

"Ich habe Probleme beim Harnlassen." Habe ich das wirklich so geschrieben? Herrje. Es gibt gute Gründe, nicht um drei Uhr in der früh noch zu schreiben. Das gehört selbstervständlich korrigiert.

tatsächlich habe ich diesen text nur verfasst, weil der gute tebis meinte, mein einhundertunderster sollte doch mal ein toilettenartikel werden, die habe er in der letzten zeit so vermisst. also bittesehr.

liebe ano,
du benutzt öfter männertoiletten? hui. vermutlich solltest du diesen beitrag über das toilettentum verfassen - es wäre sicher um einiges interessanter. tatsächlich gilt bei einigen männern die gute alte regel des "survival of the longest". das sind dan jene, die ausrasten, wenn man sie in ihrer größe angreift. die gleichen männer auch, die aufs maul hauen, wenn sie "schwul" genannt werden. aber so jemand hat sich sicher schon in früher jugend die falschen idole gesucht.

für meine enkel ist die geschichte wohl nichts, auch wenn sie wahr ist. denn enkel werde ich nicht haben, wenigstens nicht nach der von dir verfassten regel. :)

dir und frau wahl lieben dank.