Mittwoch, März 21, 2007

Odyssee

Er würde den Hut nicht absetzen. Das wusste ich. Ich wusste ohnehin schon die ganze Zeit, was vorher geschehen würde. Der Abend war durchzogen gewesen von Vorahnungen und Hilflosigkeit. Kassandra-Syndrom, das volle Programm.

Gerade jetzt wünschte ich, ich hätte einen kleinen gelben Zettel dabei, auf den ich eine Notiz schreiben könnte. Den würde ich ihm dann auf den Beifahrersitz legen, so dass die Klebeseite nach oben zeigen würde. Wenn er aussteigen würde, der Zettel haftete an seinem Hintern. Dann würde er ihn vielleicht nicht bemerken, nicht in dieser Nacht. Aber am Morgen. Der kleine gelbe Zettel auf dem Fußboden seines Zimmers neben der Hose vom Vorabend auf dem stehen würde: Du wirst den Hut nicht absetzen.

Jakob sackte in den Sitz neben mir, nachdem er seinen großen Militärrucksack auf der Rückbank verstaut hatte und die zwei Flaschen Wegbier herausgekramt hatte, ohne die er die Strecke bis zu seiner Wohnung sicher nicht überleben würde. Auf der Rückbank saß, neben Jakobs großen Militärrucksack, Daniel, der bereits gähnte und fragte, ob er Jakobs Kissen benutzen dürfe. Verräter!

Es war eine dieser Aucheinladungen gewesen. So eine, bei der man nicht vom Gastgeber persönlich gefragt wird, sondern von jemandem anderes, der dann sagt „Ach ja, du bist auch eingeladen.“ Das wird dann meist gefolgt von einem Satz wie: „Kannst du fahren?“ Und damit ist klar, warum es eine Aucheinladung war.

Ich hatte mich breitschlagen lassen, obwohl ich wusste, dass ich an diesem Abend keinen Spaß haben würde. Irgendwann war dann aber die Befürchtung zu groß, eine jener legendären Feiern zu verpassen, von denen man sich hinterher noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt, wenn einem sonst gerade nichts besseres einfällt und so kam es, dass ich Daniel und Jakob in mein Auto lud und die zwei Stunden nach Gießen fuhr.

Um es kurz zu machen: Ich hätte nichts verpasst. Es war eher umgekehrt. Vermutlich verpasste ich einen tollen Film im TV oder eine schöne Gelegenheit einen netten Abend woanders zu verleben. Stattdessen flüchtete ich mich mit Daniel in die gemeinsame Vergangenheit, wo wir von alten Narben berichteten und Wunden leckten, um nicht mit den sonstigen Gästen in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Irgendwann gegen Mitternacht hatte ich dann eine Wunderkerze in der Hand und sprach dem Gastgeber meine besten Glückwünsche für sein neues Lebensjahr aus, während im Hintergrund Lieder angestimmt wurden, die ich nur von den Geburtstagen meiner Großeltern kannte.

Es war nicht leicht gewesen, Jakob zu überzeugen, früh zu fahren. Umso glücklicher war ich, als er endlich den Joint weglegte und aus dem verqualmten Zimmer schritt, um seine Springerstiefel zu greifen und diverse Vorräte in seinem Militärrucksack zu stopfen. Er hatte protestiert, aber das hörte auf, als ich ihm sagte, dass es mir egal sei, ob er im Auto wäre, wenn es losführe.

Jakob war der Bruder des Gastgebers und ich hatte ihn schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwann vor vier Jahren hatten wir mal Fußball gespielt, auf einem staubigen Bolzplatz, im Sommer. Das einzige, was ich noch wusste, war, dass Jakob ein Brummer war. Einer dieser Menschen, die erzählen, ohne dass es andere interessiert. Die Monologe halten und nicht am Wohlergehen anderer interessiert sind. Ein Mensch, der seine Meinung über alles stellt, der immer und immer nur redet. Jemand, für den Megafone erfunden wurden, jemand, der brummt wie eine Klimaanlage, ein Computerlüfter, ein Scheibenwischermotor. Jemand, der einen nicht stört, wenn man nicht hinhört, aber dem man irgendwie abstellen will, sobald man es tut.

Damals hatte er noch von den Metallern und den Nazis geredet. Im Auto, nach dem Fußballspiel. Hatte erzählt, wer wem wie auf die Fresse gegeben hat und warum derjenige das verdient hatte oder auch nicht und wie er noch Verstärkung suchen würde, um es denen mal endlich zu zeigen. Ich konnte mich erinnern, weil ich das Gespräch in Teilen kurz zuvor wieder gehört hatte, als Jakob einen der anderen Partygäste zulaberte, der mir Leid tat. Aber nur ein bisschen.

Jetzt hatte ich Angst. Wir fuhren los. Daniel war noch wach und so gnädig, in den letzten Minuten seines Wachseins die Aufmerksamkeit Jakobs auf den Rücksitz zu lenken, während ich versuchte, einen Weg aus Gießen heraus zu finden. Jakob sprach von Drogen und Alkohol und wer wie viel und was wäre wenn und all so etwas. Als er fertig war, aus seinem höchstprivaten Guinnessbuch der Betäubungsmittelrekorde zu zitieren, erzählte er noch, wie die „Scheißbullen“ letztens seinen Freund mit zwei Promille aus dem Wagen gezogen hatten.

Das hielt er für eine Unverschämtheit und ich brach mein selbstauferlegtes Schweigegelübte, indem ich entgegnete, dass ich das sehr wohl in Ordnung finden würde, wenn die Polizei so jemanden aus dem Verkehr zieht. Auch sein Argument, es habe sich lediglich um Restalkohol vom Vorabend gehandelt, ließ ich nicht gelten. Stille breitete sich im Wagen aus. Ich war insgeheim froh, niemanden zu kennen, der jemals zwei Promille Restalkohol gehabt hatte und Daniel auf der Rückbank nutzte die Zeit der Ruhe, um das Land der Träume zu betreten.

Als wir auf die Autobahn fuhren, waren wir allein. Jakob, ich und hundert Kilometer. Bis Siegen, da wollte er raus, weil da sein Zimmer war und insbesondere aber weil da seine Bong stehen würde und er in dieser Nacht noch nicht genug hatte. Für mich bedeutete das auf der einen Seite zwar einen Umweg, auf der anderen Seite war ich aber auch froh, nicht die kompletten nächsten beiden Stunden meines Lebens mit Jakob verbringen zu müssen.

Ich schielte kurz nach rechts herüber. Da saß er. Das Gesicht unter der Krempe seines Indianer-Jones-Hutes verborgen. Dort wo seine Augen waren, reflektierten die Gläser seiner runden Brille das Licht des Gegenverkehrs. Den langen Bart konnte ich nicht erkennen, aber er würde da sein. Genau wie die langen, offen getragenen Haare. Ich würde nie verstehen, warum immer genau die Menschen die Haare lang tragen, denen so etwas ums verrecken nicht stehen will.

Mein Herüberblicken schien ihm ein Zeichen zu sein. Er legte los. Sagte, wie er das ja schon irgendwie verstehen könnte, mit der frühen Abfahrt, aber er hätte doch auch die Amphetamine bezahlt, die mich noch bis in die Morgenstunden wach gehalten hätten. Ich antwortete noch irgendetwas, was ihm klar machen sollte, dass er mit dem Drogengewäsch bei mir schlechte Karten habe und es deshalb besser gleich sein lassen solle. Dann stellte ich meinen Mund auf Automatik.

Automatik. Ich bin war ihr so dankbar. Wie oft hatte sie mir das Leben gerettet? Es müssen dutzende, ja hunderte Male gewesen sein. Es funktionierte ganz einfach: Die Ohren nahmen Ton auf, leiteten ihn aber nicht zur Verarbeitung weiter, sondern meldeten nur längere Pausen. In die längeren Pausen streute dann der Mund tolle Worte oder Halbsätze ein wie: „ahso“, „und dann“, „mmmmhh“, „das ist ja interessant“, „meinst du wirklich“, „ist nicht dein Ernst“ oder auch das gute alte „ja das kenne ich“. Brummer, oder Gesprächspartner mit Brummertendenzen merkten nie, dass man ihnen nicht zuhörte. Das fehlte in ihrer Wahrnehmung. Ich würde das gerne evolutionärgenetisch erklären, aber das sollen andere tun.

So saßen wir also da und ich ließ in seine Wortflut immer mal wieder das ein oder andere Tröpflein fallen, welches das Fass seines großen Mitteilungsdranges ein weiteres Male zum überlaufen bringen musste und die nächste Welle gröberen oder feineren Unsinnes über mich hereinbrach. Ich sagte nicht einen vernünftigen Satz. Nicht während der ersten halben Stunde der Fahrt.

Schließlich war er irgendwann dabei angekommen zu erzählen, dass er hochbegabt sei. Eine Tatsache, von Daniel mir schon einmal berichtet hatte und über die wir uns daraufhin etwa eine Stunde lang lustig gemacht hatten. Jakob erzählte davon, wie er bei Günter Jauchs IQ Test mehr Punkte gesammelt hatte, als der beste Mensch im Publikum und wie die Maßstäbe heutiger IQ-Tests gar nicht in der Lage seien, seinen Intellekt zu messen, weil die Obergrenze ja bei 160 Punkten liegen würde und er die in jedem Falle locker sprengen würde.

Diese ganze Hochbegabungssache fußte auf einem einzigen Test, den er einmal in seiner Kindheit gemacht hatte. Jakob war nicht hochbegabt. Oder wenn er es jemals gewesen war, dann hat er seine Hochbegabung über die letzten beiden Jahrzehnte, denn Jakob war einige Jahre älter als ich, ganz sicher versoffen oder verkifft, denn ich wunderte mich über die Klarheit seiner Worte, die im krassen Gegensatz dazu stand, dass er den ganzen Abend hindurch ein Glas nach dem andern geleert hatte. Ein Umstand, der, neben seinen und anderen Geschichten auf einen Gewohnheitstrinker schließen ließ.

Nun, da waren wir also und er meinte, dass er hochbegabt sei und war drauf und dran sich mehr und mehr selbst zu loben für seine guten analytischen Fähigkeiten und für den hellen Kopf den er doch hatte, als ich es nicht mehr aushielt. „Jakob, jetzt mal so unter uns: Was hast du denn aus deiner Hochbegabung gemacht? Sag doch mal.“ Das war sicher unfair, aber nach dem ganzen Eigenlob der vergangenen Stunden und Minuten ging es einfach nicht anders.

Es geschah etwas, was ich gar nicht erwartet hätte: Jakob taumelte durch den Ring. Treffer auf die Nase, mit Karacho auf den wunden Punkt. Es dauerte eine Weile, bis er wieder da war, aber als er dann wieder da war, ging es richtig los. Er begann mit der Schule und wie er vom Hochbegabteninternat geflogen war und erzählte irgendetwas von Menschen, die ihm eins auswischen wollten. Wirre Geschichten, denen ein Außenstehender unmöglich folgen konnte.

„Nein, ich meine jetzt. Was machst du jetzt mit deiner Hochbegabung?“ Ich setzte nach, weil Jakob gerade dabei war, das Schlimmste in mir herauszufordern. „Was studierst du denn, wenn du analytisch so viel auf dem Kasten hast? Mathe? Physik? Hm?“ Ich war ein Arsch, aber ich hätte nicht mit der Kaltschnäuzigkeit gerechnet, mit der er antwortete. Er sagte dass er soziale Arbeit studieren würde, aber das Studium ihn total unterfordern würde. Außerdem hätte er es geschafft, seinem hohen Intellekt nun auch noch eine hohe soziale und emphatische Intelligenz zur Seite zu Stellen.

Beinahe hätte ich angehalten um zu kotzen. Der Typ, der seit bestimmt mehr als sieben Jahren einfach nur vor sich hinstudiert und das Geld seiner Eltern versoff und verkiffte, klang gerade so, als wäre er die leibhaftige Inkarnation Jesu Christi. Beim Aussehen wäre er immerhin schon mal auf dem halben Wege. Empathische und soziale Intelligenz. Worte von dem, der sich soeben eine halbe Stunde lang nur mit meinem Mund unterhalten hatte, ohne es zu merken. Gern hätte ich den Wagen in diesem Moment in etwas Großes, etwas Festes hineingelenkt, wenn Beifahrerairbags mit einer großen Portion Selbstreflexion ausgestattet wären.

Er hatte wirklich Glück, dass die französischen Ingenieure bei Renault noch nicht so weit waren. Die Vorstellung war aber noch nicht zu Ende. „Außerdem nutze ich meine Hochbegabung jetzt um Pokerprofi zu werden.“ Um ein Haar hätte ich uns alle getötet, indem ich aus der Tür gesprungen wäre. Ich wollte rollen. Wollte mich vor lachen auf dem Boden wälzen und nicht aufhören. Nicht in einer Million Jahren. Stattdessen blickte ich kurz nach links damit er das breiteste Grinsen, was ich zustande bringen konnte nicht sah.
„Oh, du spielst Poker…na das ist ja…“ …mein alter Feind.

Und dann war es vorbei. Dann war Poker. Ich hörte von seinen Erfolgen und wo er wie Geld machte und gegen wen er spielte und was für Karten er in welcher Situation auf der Hand hatte und wie hoch die Blinds waren und wann er All-in gehen musste und warum es immer besser ist, rechts neben Linkshändern zu sitzen, als links neben Rechtshändern.

Das beste erwähnte er nur so zwischendurch: Er spielte Onlinepoker! Also Poker an sich war dämlich, aber Onlinepoker? Das war ja sogar unsexy! Hätte James Bond wohl derart cool ausgesehen, wenn er in Unterhose vor seinem PC gesessen hätte, mit der einen Hand an der Maus und der anderen in der Hose? Nein, hätte er nicht! Wenn schon Poker, dann aber bitte mit Frack und Fliege und Cocktails und Casinos und goldenen Chips und grünem Filz und Frauen in Superabendkleidern in Sportwagen.

Die Zeit schlich dahin während neben mir die Geheimnisse des Pokerspiels offenbart wurden. Die Zeiger der Uhren wollte nicht weiter und die Tachonadel zeigte konstant einhundertundvierzig Stundenkilometer. Mein Mund war lange wieder auf Automatik, aber es hätte wohl auch keiner Füllworte bedurft, denn der Monolog, der nun über mich hereinprasselte, hätte nicht einmal dann aufgehört, wenn ich ihm versichert hätte, taubstumm zu sein.

Ich wurde müde. Die Fahrbahnmarkierungen verschwammen in der Ferne und Schilder konnte ich schon lange nicht mehr richtig Lesen. Daniel schlief auf dem Rücksitz. Schlaf… Es war eine schöne Nacht. Nicht so kalt wie die Nächte zuvor und es hatte nicht geregnet. Zwischen den langsam dahinschwebenden Wolkenfetzen konnte man die Sterne sehen und dann war da noch ein Scheinwerfer, der die Wolken von unten illuminierte.

Sie waren wunderschön. Als ich die Flieger sah, konnte ich nur daran denken, dass sie wunderschön waren. Majestätisch zogen sie dahin, wie ein Schwarm großer Vögel. B-24 auf dem weg in den Südosten. Vielleicht Richtung Gießen? Der Scheinwerfer erfasste das Flugzeug an der Spitze und es wurden Feuerbefehle gerufen…

Ich erschrak fürchterlich als ich merkte, dass meine Hände noch immer das Lenkrad eines Autos umklammert hielten und ich nicht etwa hinter dem Acht-Achter saß, hinter dem ich mich noch vor Sekunden geglaubt hatte und dass das laute Brummen nicht etwa Flugzeugmotoren waren, sondern die Reifen, die über die Fahrbahnmarkierung hoppelten.

„Fuck!“
Ich schrie und Adrenalin schoss durch meinen Körper. Beinahe hätte ich das Lenkrad verrissen, aber konnte mich gerade noch soweit im Griff behalten, dass ich den Wagen ohne größeren Schaden wieder in die Spur zurückbewegten konnte.

„Was’n?“ Jakob hatte nichts gemerkt. Verfluchter Beifahrer. Aber nein, das war ganz und gar meine Schuld. Verflucht. „Bin wohl grad kurz eingeschlafen.“ Es war ihm egal. Der Scheinwerfer suchte wieder den Himmel ab. Eine Disco. Keine Flugzeuge. Auf dem Rücksitz schlief Daniel weiter.

Nach kurzer Zeit meinte Jakob, dass wir nun gleich an der richtigen Ausfahrt seien und ich fragte ihn noch das ein oder andere über Poker, um nicht wieder in die Gefahr zu kommen, einzuschlafen. So wusste ich nach kurzer Zeit eine ganze Menge über die Ligen beim Onlinepoker und wie Jakob beinahe einmal Vierter in einer der unteren Liegen geworden wäre, dann aber doch nur Neunter wurde und leer ausging.

Irgendwann später, es war schon in Siegens Innenstadt, da fragte ich Jakob, wie viel er denn so insgesamt schon gewonnen hatte, beim Pokern. Er redete erst viel von Beinahegewinnen und es gab da wohl den ein oder anderen Was-wäre-wenn-Tausender. Ich ließ nicht locker.

Es waren etwa 40 Euro. Davon gehörte jetzt ein guter Teil mir, denn wir erreichten unser Ziel. Spritgeld. Nachdem Jakob den großen Militärrucksack von der Rückbank geholt hatte und Daniel für kurze Zeit aufwachte und sich murrend auf dem Beifahrersitz ein neues Bett suchte, sah ich Jakob noch kurz hinterher, als er sich schon verabschiedet hatte. Ein gelber Zettel auf dem Hintern. Das wäre es gewesen. Ich hätte recht gehabt. Er hatte den Hut nicht abgesetzt.


Deftones - Passenger (ft. Maynard James Keenan)

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