Stillleben (Teil 2)
Großmutters Heim ist eines jener zahllosen Altenheime oder jener Seniorenwohnparks, wie sie in den letzen Jahren überall aus dem Boden gestampft werden. Mutter findet es „schön“ und auch ich habe während meines Zivildienstes deutlich Schlimmeres erlebt. Schön ist aber anders. Gegen Krankenhausfahrstuhl und pflegeleichtes, dunkelblaues Nadelvlies als Bodenbelag kommen auch die selbstgestalteten Fotocollagen nicht an, auf denen Heimbewohner zu sehen sind. Kein Ort zum Leben, kein Ort zum Sterben.
Fast hätte ich sie nicht erkannt. Großmutter wirkt so klein, so zerbrechlich, ja alt. Sehr alt. Eingefallene Wangen, die Augen verschwinden in tiefen Höhlen und die nur langsam nachwachsenden Haare sind so weit entfernt von dieser verruchten Marilyn Monroe Doppelgängerin auf den Schwarzweißbildern der Familienalben. Fast hätte auch sie mich nicht erkannt. Sie spricht mich mit dem Namen meines Vaters an. Ich korrigiere.
Es herrscht betretene Stille als der brüllende Fernseher ausgeschaltet wird. Fünf Menschen wissen nicht, was sie sagen sollen. Schließlich hilft Großvater seiner Frau in den Rollstuhl. Da ist schon ewig nichts mehr zwischen den beiden. Eine Ehe, die wohl das Modellbeispiel für Scheitern ist, die aus Geschiedenen vielleicht glückliche Leute hätte machen können, bei der es aber für Ende und Neuanfang zu spät ist.
Im leeren Speisesaal. Tische zu Sitzgruppen zusammengestellt, manche mit Stühlen davor, andere ohne. Rollstuhlparkplätze. In der Ecke steht ein trauriger Weihnachtsbaum, der, halb braun, bereits die Zweige hängen lässt. Davor liegt eine mattrote Weihnachtskugel auf dem Boden. Großvater befestigt sie. Wir suchen Stühle zusammen, setzen uns. Es ist noch immer seltsam still. Ob man nicht Kuchen bekommen könne, fragt Großmutter eine Pflegerin in scharfem Ton. Kurz darauf setzt ihr die Pflegerin ein Stück Marzipantorte vor, hinter dem sie zu verschwinden scheint. Sie isst. Wir schweigen.
Auf dem Tisch liegen Platzdecken, scheinbar von den Bewohnern selbst gestaltet. Darauf der Name, geschmückt mit Bildern, die aus Zeitschriften stammen. Ich bin „Herr Unbescheid“, mag offenbar Blumen und rote Sportwagen. Scheinbar bin ich ein alter Playboy. Auf Großmutters Platzdecke ist genau ein Bild befestigt, was einen schwarzen Knubbel auf grünem Untergrund zeigt. Ich sehe genauer hin.
„Hey, da ist ja Ben auf deinem Platz.“
„Da war er grad acht Wochen alt.“
Ihre Augen leuchten ein wenig. Dann hören sie wieder auf. Sie bietet mir Kuchen an. Ich entgegne, dass ich grad große Mengen gegessen habe und sie sich ihr Stück bloß weiter schmecken lassen soll. Ob sie mich hört, weiß ich nicht, denn ihr Blick ist auf einmal in die Ferne gerichtet. Direkt durch mich hindurch. Ich sehe weg.
Dann wird sie mit einem Male unruhig. Sagt, dass sie jetzt zurück muss, weil ja Krankengymnastik ist. Außerdem würden wir ja sicher auch nach Hause müssen. Wir sitzen etwa eine Viertelstunde zusammen. Es gibt einiges an hin- und her, bis Großvater im Gespräch mit einer Pflegerin herausfindet, dass Krankengymnastik erst später ist. Großmutter glaubt das erst, als die Krankengymnastin selbst versichert, dass noch eine Stunde Zeit sei.
Ich bin mir nicht sicher, ob es Großmutter gefällt, dass wir beschließen, eine Runde spazieren zu gehen. Ich helfe Großvater dabei, den Rollstuhl mit Decken möglichst Winterfest zu machen. Draußen bleibt es kalt. Vorne schiebt Vater den Rollstuhl durch das Dämmerlicht des 27. Dezember und hinter mir unterhalten sich Mutter und Großvater, der einen viel zu weiten Parka und eine Bundeswehrschirmmütze trägt.
Ein Nazipärchen schiebt uns seinen Kinderwagen entgegen, ein Mann im Trainingsanzug fährt auf einem Fahrrad ein Sechserpack Bier spazieren. Sonst ist hier nichts. Nur Winter. Nur Kalt. Geisterstadt. Ich grabe mich tief in meine Jacke ein. Ich beginne mich zu erinnern. An den Spielplatz, auf dem ich für zwei Mark einen stinkenden Transformer gekauft habe, an die Wiese, auf der wir Ben mal an der Leine führen durften, an den Bach, an dem ich Großvater beim Angeln zusah. In dieser einen Woche Besuch, in der ich Großeltern hatte.
Vater schiebt den Rollstuhl, als sei es ein Einkaufswagen. Außerdem sind seine Hände bereits ganz blau. Sein Protest fällt darum auch schwach aus, als ich anbiete, für ihn zu übernehmen. Die Hände verschwinden sofort in den Taschen.
Großmutter ist unglaublich leicht. Das fällt mir sofort auf, denn ich habe während des Zivildienstes einige Kilo in Rollstühlen bewegt. Es bedarf gar keiner Kraft, sie rollt einfach so. An meinen Zivildienst erinnert mich auch mein Tonfall, als ich mich nach dem Leben im Heim erkundige. Langsam entwickelt sich etwas wie eine Unterhaltung.
Bald weiß ich, dass Weihnachten unglaublich viel gefeiert wurde, dass es eigentlich ganz schön dort ist und dass Herr Unbescheid, ich hatte es bereits gedacht, bei den letzen Tanzbarkeiten die Frau Schimanski angegraben hat. Großmutter fragt nicht nach mir, was ich mache und wie es geht. Dass ich groß geworden bin, findet sie gut und als sie sagt, dass sie froh ist, so schöne Enkel zu haben, weiß ich nichts zu sagen.
Dann erzählt sie noch, wie gut es sei, dass das Heim so nah an ihrer Wohnung liegt und dass sie ja bald nach hause laufen könne, wenn das mit dem Gehen wieder so richtig klappt. Sie weiß nicht, dass sie den Rollstuhl wohl nie wieder für mehr als ein paar Schritte verlassen kann, sie vermutlich den Rest ihres Lebens im Heim verbringt und es bald auch kein Zuhause mehr geben wird.
Insgeheim bin ich froh, als wir wieder auf ihrem Zimmer sind, sie von den vielen Schichten kälteabweisenden Stoffes befreien können und sie sich schließlich wieder in ihr Bett legt. Wir packen gemeinsam noch schnell den lilafarbenen Pyjama aus, den sie so „edel“ findet, dass man ihn ja auch als Pullover tragen kann. Der Fernseher wird wieder angestellt, der Rollstuhl kommt zurück in seine Ecke. Ob sie sich an uns erinnern wird? Ich weiß es nicht. Auf Wiedersehen.
Zurück in Großvaters Wohnung lehnt er noch schnell den Rest Suppe ab. Er habe ohnehin viel zu viel zu essen. Das schaffe er gar nicht allein. Fünf Minuten später kommt er mit nach draußen, weil er noch Brot kaufen muss. Etwas passt nicht zusammen. Auf Wiedersehen. Ich winke noch aus dem Fenster, dann wird der Mann in Oliv langsam kleiner.
Vorbei an Stromverteilerkästen, vorbei an Panzermuseumschildern, dann linke Spur, hundertsechzig, Musik, Nebel und Schnee. Ich schlafe ein.
Fast hätte ich sie nicht erkannt. Großmutter wirkt so klein, so zerbrechlich, ja alt. Sehr alt. Eingefallene Wangen, die Augen verschwinden in tiefen Höhlen und die nur langsam nachwachsenden Haare sind so weit entfernt von dieser verruchten Marilyn Monroe Doppelgängerin auf den Schwarzweißbildern der Familienalben. Fast hätte auch sie mich nicht erkannt. Sie spricht mich mit dem Namen meines Vaters an. Ich korrigiere.
Es herrscht betretene Stille als der brüllende Fernseher ausgeschaltet wird. Fünf Menschen wissen nicht, was sie sagen sollen. Schließlich hilft Großvater seiner Frau in den Rollstuhl. Da ist schon ewig nichts mehr zwischen den beiden. Eine Ehe, die wohl das Modellbeispiel für Scheitern ist, die aus Geschiedenen vielleicht glückliche Leute hätte machen können, bei der es aber für Ende und Neuanfang zu spät ist.
Im leeren Speisesaal. Tische zu Sitzgruppen zusammengestellt, manche mit Stühlen davor, andere ohne. Rollstuhlparkplätze. In der Ecke steht ein trauriger Weihnachtsbaum, der, halb braun, bereits die Zweige hängen lässt. Davor liegt eine mattrote Weihnachtskugel auf dem Boden. Großvater befestigt sie. Wir suchen Stühle zusammen, setzen uns. Es ist noch immer seltsam still. Ob man nicht Kuchen bekommen könne, fragt Großmutter eine Pflegerin in scharfem Ton. Kurz darauf setzt ihr die Pflegerin ein Stück Marzipantorte vor, hinter dem sie zu verschwinden scheint. Sie isst. Wir schweigen.
Auf dem Tisch liegen Platzdecken, scheinbar von den Bewohnern selbst gestaltet. Darauf der Name, geschmückt mit Bildern, die aus Zeitschriften stammen. Ich bin „Herr Unbescheid“, mag offenbar Blumen und rote Sportwagen. Scheinbar bin ich ein alter Playboy. Auf Großmutters Platzdecke ist genau ein Bild befestigt, was einen schwarzen Knubbel auf grünem Untergrund zeigt. Ich sehe genauer hin.
„Hey, da ist ja Ben auf deinem Platz.“
„Da war er grad acht Wochen alt.“
Ihre Augen leuchten ein wenig. Dann hören sie wieder auf. Sie bietet mir Kuchen an. Ich entgegne, dass ich grad große Mengen gegessen habe und sie sich ihr Stück bloß weiter schmecken lassen soll. Ob sie mich hört, weiß ich nicht, denn ihr Blick ist auf einmal in die Ferne gerichtet. Direkt durch mich hindurch. Ich sehe weg.
Dann wird sie mit einem Male unruhig. Sagt, dass sie jetzt zurück muss, weil ja Krankengymnastik ist. Außerdem würden wir ja sicher auch nach Hause müssen. Wir sitzen etwa eine Viertelstunde zusammen. Es gibt einiges an hin- und her, bis Großvater im Gespräch mit einer Pflegerin herausfindet, dass Krankengymnastik erst später ist. Großmutter glaubt das erst, als die Krankengymnastin selbst versichert, dass noch eine Stunde Zeit sei.
Ich bin mir nicht sicher, ob es Großmutter gefällt, dass wir beschließen, eine Runde spazieren zu gehen. Ich helfe Großvater dabei, den Rollstuhl mit Decken möglichst Winterfest zu machen. Draußen bleibt es kalt. Vorne schiebt Vater den Rollstuhl durch das Dämmerlicht des 27. Dezember und hinter mir unterhalten sich Mutter und Großvater, der einen viel zu weiten Parka und eine Bundeswehrschirmmütze trägt.
Ein Nazipärchen schiebt uns seinen Kinderwagen entgegen, ein Mann im Trainingsanzug fährt auf einem Fahrrad ein Sechserpack Bier spazieren. Sonst ist hier nichts. Nur Winter. Nur Kalt. Geisterstadt. Ich grabe mich tief in meine Jacke ein. Ich beginne mich zu erinnern. An den Spielplatz, auf dem ich für zwei Mark einen stinkenden Transformer gekauft habe, an die Wiese, auf der wir Ben mal an der Leine führen durften, an den Bach, an dem ich Großvater beim Angeln zusah. In dieser einen Woche Besuch, in der ich Großeltern hatte.
Vater schiebt den Rollstuhl, als sei es ein Einkaufswagen. Außerdem sind seine Hände bereits ganz blau. Sein Protest fällt darum auch schwach aus, als ich anbiete, für ihn zu übernehmen. Die Hände verschwinden sofort in den Taschen.
Großmutter ist unglaublich leicht. Das fällt mir sofort auf, denn ich habe während des Zivildienstes einige Kilo in Rollstühlen bewegt. Es bedarf gar keiner Kraft, sie rollt einfach so. An meinen Zivildienst erinnert mich auch mein Tonfall, als ich mich nach dem Leben im Heim erkundige. Langsam entwickelt sich etwas wie eine Unterhaltung.
Bald weiß ich, dass Weihnachten unglaublich viel gefeiert wurde, dass es eigentlich ganz schön dort ist und dass Herr Unbescheid, ich hatte es bereits gedacht, bei den letzen Tanzbarkeiten die Frau Schimanski angegraben hat. Großmutter fragt nicht nach mir, was ich mache und wie es geht. Dass ich groß geworden bin, findet sie gut und als sie sagt, dass sie froh ist, so schöne Enkel zu haben, weiß ich nichts zu sagen.
Dann erzählt sie noch, wie gut es sei, dass das Heim so nah an ihrer Wohnung liegt und dass sie ja bald nach hause laufen könne, wenn das mit dem Gehen wieder so richtig klappt. Sie weiß nicht, dass sie den Rollstuhl wohl nie wieder für mehr als ein paar Schritte verlassen kann, sie vermutlich den Rest ihres Lebens im Heim verbringt und es bald auch kein Zuhause mehr geben wird.
Insgeheim bin ich froh, als wir wieder auf ihrem Zimmer sind, sie von den vielen Schichten kälteabweisenden Stoffes befreien können und sie sich schließlich wieder in ihr Bett legt. Wir packen gemeinsam noch schnell den lilafarbenen Pyjama aus, den sie so „edel“ findet, dass man ihn ja auch als Pullover tragen kann. Der Fernseher wird wieder angestellt, der Rollstuhl kommt zurück in seine Ecke. Ob sie sich an uns erinnern wird? Ich weiß es nicht. Auf Wiedersehen.
Zurück in Großvaters Wohnung lehnt er noch schnell den Rest Suppe ab. Er habe ohnehin viel zu viel zu essen. Das schaffe er gar nicht allein. Fünf Minuten später kommt er mit nach draußen, weil er noch Brot kaufen muss. Etwas passt nicht zusammen. Auf Wiedersehen. Ich winke noch aus dem Fenster, dann wird der Mann in Oliv langsam kleiner.
Vorbei an Stromverteilerkästen, vorbei an Panzermuseumschildern, dann linke Spur, hundertsechzig, Musik, Nebel und Schnee. Ich schlafe ein.
Audrey - Mecklenburg
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