Nachdem Andrea aufgelegt hat, liege ich noch lange wach und überlege, wann ich den Moment verpasste, in dem ich es hätte merken müssen. Sicher war es seltsam, dass Johannes sich meldete, nach all der Zeit. Aber ich bin ja auch niemand, der soziale Kontakte besonders pflegt und eine Pause aus all dem Pärchen-Gesellschaftsspielabendetraumland, das seine Freundin langsam um ihn herum aufbaut, muss ihm einfach gut tun. Darum sage ich zu, als er irgendwann gegen Mittag eine Kurzmitteilung sendet.
Er ist beim zweiten Bier, als ich mit der üblichen Verspätung im „drive-by“, eben jenem „Stammlokal“, ankomme. Ich stelle fest, dass ich schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr hier war. Seit Günni, so hieß der Wirt, der eine Expedition ohne Wiederkehr nach Portugal unternahm, nicht mehr hinter dem Tresen steht, hat sich einiges verändert. Alles ist eine Spur dreckiger, der Boden klebt von verschüttetem Bier, die Leute sind, nett beschrieben, merkwürdig. Ich beschließe, nicht wieder herzukommen, um nicht die Erinnerung an schöne Abende mit neuen Eindrücken zu überdecken.
Gar nicht verändert hat sich Johannes. Wir plaudern über die Zeit in der Schule und danach, die Leute und was aus ihnen geworden ist, schließlich landen wir bei Gott und der Welt – und bei Andrea. Es wird das fünfte Bier gewesen sein, als es aus ihm herausplatzt. Er wirkt auf einmal recht durcheinander, erzählt eine wirre Geschichte von Andrea, einem Daniel von ihrer Uni, Eifersucht, einem enormen Streit am Vorabend und grußloser Gleichgültigkeit am Morgen. Mir wird langsam klar, warum wir hier sitzen. Johannes geht auf die Toilette.
Als das Glas an der Wand zerbirst, explodiert die Gewalt im Raum. Ich kann spüren, wie die Luft mit einem Schlag kälter wird und will nicht glauben, mit welcher Geschwindigkeit nun alles geschieht. Gerade habe noch dieses hastige „Runter!“ über die Lippen gebracht, was wohl Schlimmeres verhinderte, um jetzt zu sehen, wie Schlimmeres auf Johannes zustürmt.
Ich habe mir den Mann vorher gar nicht genau angesehen. Er ist klein, aber kräftig. Bestimmt vierzig, schwarze Igelfrisur, braune Lederjacke, enge Jeans und eine Nase, die sicher schon einmal gebrochen war. Johannes, der sich geistesgegenwärtig bei meinem Aufschrei auf den Boden warf, rappelt sich langsam wieder auf.
„Dich mach ich platt!“ der Mann brüllt und hat die Distanz zu Johannes mit drei Schritten schnell überbrückt. Die Faust streift Johannes, der erstaunlich gut ausweicht, am Ohr und trifft schließlich die Schulter, ohne großen Schaden anzurichten. Johannes weicht zurück. Schnell hat sich ein Halbkreis aus Menschen um die Szene gebildet, die mir immer surrealer erscheint. Johannes nimmt eine Verteidigungsstellung ein, wie ich sie aus Martial-Arts Filmen kenne und versucht, möglichst viel Entfernung zwischen sich und den Schwarzhaarigen zu bringen.
Er ist aber viel zu betrunken, um dem plötzlichen Kopfstoß seines Gegenübers viel entgegenzusetzen. Patsch. Ein hässliches Geräusch. Dann noch einmal Patsch, als Johannes zusammensackt.
2 Kommentare:
erde an herrn rupert - würden sie bitte wieder in den blogger-orbit eintreten? ich vermisse sie. wo sind sie nur?
zurück auf der erde. die ersten schritte nach der schwerelosigkeit sind die schlimmsten.
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