Dienstag, Februar 11, 2014

Ende der Ausbaustrecke

Der Junge muss sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür werfen, damit er sie öffnen kann.
Er springt ins Freie, dreht sich um und schaut ungeduldig nach seiner Mutter, die mit den beiden großen Tüten in den Händen und dem Gleichgewicht kämpft als sie den Zug verlässt.

Ich mache einen großen Schritt auf den Bahnsteig, sauge klare Luft in meine Lungen und sehe mich um. Der Bahnhof ist klein. Zwei Gleise, eine Unterführung und etwas das aussieht wie das Schild einer Bushaltestelle.
Die Unterführung riecht nach Pisse. Neonflackerlicht. Auf der anderen Seite die Haltestelle mit der Linie 56 und dem S4. Kein Wartehäuschen. Und kein Bus.

"Der kommt nicht mehr. Kein Bus mehr nach sieben." ruft die Tütenmutter und steigt in einen kleinen roten Fiesta, in dem sie zuerst die großen Taschen und dann den Jungen umständlich untergebracht hat. Es ist kalt und es müsste eigentlich jeden Moment anfangen zu schneien. Jedenfalls wenn der Wetterbericht recht hat. Jedenfalls wenn dieses Schneesymbol auf dem Handydisplay ein Wetterbericht ist. Kein Bus mehr nach sieben.

Der Taxifahrer schweigt und ich mit ihm. Ob ich denn wüsste, wie weit das denn jetzt sei für ihn und dass er dann ja erst um elf wieder zurück im Ort sei, hat er wissen wollen. Allerfrühestens um elf. Wie ich denn überhaupt auf die Idee gekommen bin, mit den Zug anzureisen, wo doch jeder weiß, dass man damit nicht weit kommt, hier.

"Hier am Arsch der Welt." habe ich dann leise ergänzt und ihm einen Zwanziger zugesteckt und irgendwas von Aufwandsentschädigung gefaselt und bin mir selbst dabei unglaublich großkotzig vorgekommen. Seither nur das Radio mit den besten Hits der 70er und 80er, das knackende Funkgerät, der Motor und der Wald. Überall beschissen dunkler Wald.

"Ach, auch schon wach?" Die ersten Worte seit einhundert Kilometern. Herr Weber sieht mich nicht an und das ist gut so bei dieser Geschwindigkeit. Wir sind mit einem dieser Wolfsrudel auf der Jagd. Diese Kolonnen aus großen dunklen Limousinen, die sich auf der linken Spur der Autobahn zusammenrotten um mit ihren bösen Augen alles verscheuchen, was kleiner und langsamer ist.

Der Feierabendverkehr lässt Herrn Weber immer wieder dicht auf Kleinwagen auffahren, die auf die linke Spur gezogen sind. Bis auf fünf Meter, bis auf drei Meter. Lichthupe, Blinker, Gas. Der Ledersitz klebt an meinem verschwitzten Hemd, obwohl die Klimaanlage das Fahrzeuginnere auf arktische Temperaturen herunterkühlt. Habe ich geschlafen? Habe ich geträumt?

Seit zwei Wochen sind wir unterwegs. "Von den Besten lernen heißt, vom alten Weber lernen!" Die Worte meines Vorgesetzten klingen noch immer nach. Ein Monat Mitreise. "Da haben Sie ja richtig Glück, dass der Weber gerade dran ist! Da wäre manch anderer Frischling mal direkt neidisch drauf!" Wie ich mich da gefreut habe. Wie ich mir dachte, dass das ja bestimmt gar kein so schlechter Einstieg wäre in ein Arbeitsleben.

Ich habe nicht aufgepasst, denn mit einem Mal ist es einfach da. Dieses Schimmern um das Taxi herum. Alles wird blau und dann wieder nicht. Dann wieder blau. Der Rettungswagen fährt ohne Martinshorn durch die Nacht, überholt, wird langsam kleiner, verschwindet irgendwann. Das Versprechen, dass, ganz egal wo man gerade ist, irgendwer auf einen aufpasst. Das irgendwer kommt, um einen da rauszuholen. Dann wieder nur der Lichtkegel der Taxischeinwerfer und die alles verschlingende Dunkelheit drumherum.

"Scheiße!" Der Taxifahrer spricht. Das Blau ist wieder da. Das Blau ist überall. Viele blaue Lichter. Als würde der Wald vor uns blau brennen. Dann große Scheinwerfer, dann Feuerwehr, Rettungswagen, dann Polizei. Während wir näher kommen wird klar, dass die zwei großen Klumpen, die von den Scheinwerfern beschienen werden, einmal Autos waren.

"Hier geht es heute nicht mehr weiter!" Die Polizistin hat die Kapuze ihrer gelben Reflektor-Neonjacke tief ins Gesicht gezogen und schlägt die Handschuhe zusammen, um sich ein wenig aufzuwärmen während sie mit uns spricht. "Ist gesperrt bis morgen früh, da müssen erst noch Luftbilder gemacht werden. Sie kennen den Weg über die Dörfer?!" Der Taxifahrer bejaht, dreht den Wagen in drei Zügen und fährt den Weg zurück, den wir gekommen sind. "Scheiße!"

Wir verkaufen. Beim Mittelstand. Beim guten deutschen Mittelstand, dem Motor der Konjunktur. Wir sind das Schmieröl, wir sind das Benzin. Herr Weber schüttelt Hände, ich schüttle Hände. Herr Weber verspricht Mengen, verhandelt Preise, vermittelt Servicepläne. Dann wieder Händeschütteln, warwiedernett, biszumnächstenmal. 

Wir stehen in Hallen mit großen grünen Maschinen, wir sitzen in Büros mit blauen Teppichböden. Herr Weber redet, ich ziehe graue Mappen aus dem silbernen Alurollkoffer hervor, schlage die richtigen Seiten auf. Wir warten auf braunen Stühlen in denen man vor und zurück wippen kann. Wir warten in gelben kantigen Sesseln, in denen man tief einsinkt, wenn man sich darauf fallen lässt. Wir warten auf Geschäftsführer, auf Abteilungsleiter, auf Head ofs. Herr Weber telefoniert, notiert, tippt ein. Ich sortiere, archiviere, präsentiere. 

Drei oder vier Termine schafft man an einem Tag. Dazwischen immer wieder im Auto. Herr Weber redet nicht viel. Ich rede nicht viel. Essen in Autobahnraststätten, essen auf Parkplätzen, essen in Fast Food Ketten, essen im Hotel. Büroluft, Autoklimaanlagenluft, Hotelzimmerluft. "Ich hätte gern ein Nichtraucherzimmer!" Herr Weber hätte das gern nicht. 

Wie schnell man sich an das alles gewöhnt. Wie einfach das ist: Einchecken, auschecken. Dazwischen zwei Stunden Fernsehen, sechs Stunden Schlaf, eine halbe Stunde vor dem Frühstück und dann eine halbe Stunde Frühstück. Zwei Brötchen, Nutella, Käse, Wurst. Obst oder Joghurt. Wie schnell die Zeit vergeht. "Guten Abend, ich würde gern... danke, keinen Kaffee, ich bleibe lieber bei Saft... nein, aus der Minibar war nichts und ich würde gern mit Kreditkarte zahlen." Das geht so leicht von der Hand. Wie ich mir die Sätze für alles zurecht gelegt habe. Wie ich das alles schon auswendig weiß.

"So, da." Der Taxifahrer bleibt einsilbig. Wir fahren die letzten Meter des Hügels hinauf, auf dessen höchstem Punkt das Hotel steht. Ein großer eckiger Kasten. Fernsehflimmerschein aus einigen Fenstern. Ein riesiger beleuchteter Adventskalender. Hinter jeder Tür eine Überraschung. Der Taxifahrer schaut grimmig, als er mir meinen Koffer anreicht. Ich zahle und der Koffer scheppert, als ich ihn über das Kopfsteinpflaster der Auffahrt ziehe.

Es gibt überall im Leben Hierarchien. Das sagt Herr Weber. Herr Weber kennt sich aus mit so etwas. Herr Weber kann mit einem Blick zwischen einem Maßanzug und Stangenware unterscheiden. Herr Weber weiß, ob eine Tasche aus echtem Leder gemacht ist, oder ob es sich um eine Nachbildung handelt. Er muss sie dafür nicht berühren. So etwas ist wichtig, meint Herr Weber. Er sortiert jeden ein. Er könnte ein Seminar halten über Koffer und was sie über ihren Träger aussagen. Das behauptet Herr Weber. Immer auf Augenhöhe agieren. Das empfiehlt Herr Weber. Immer "dressed for the occasion", immer "the right tool for the right job". Herr Weber liebt solche Sätze. Dass die aufgeklebten Ziffern für die Hubraumgröße an den Autos mittlerweile immer öfter fehlen, das findet Herr Weber blöd.

Die Dame an der Rezeption ist professionell freundlich und ich trage mein Anliegen professionell auswendig gelernt vor. Wir sind bereits im letzten Kapitel unseres immer gleichen Dialogs. "Jetzt bräuchte ich noch Ihre Anschrift für die Rechnung, haben Sie ein Kärtchen für mich?" Ich habe das Kärtchen bereits in der Hand und reiche es über den Tresen. Sie schaut flüchtig auf den nüchternen Zettel und beginnt zu tippen, bis sie dann noch einmal schaut und kurz verharrt.

"Ach Sie sind von... "
Pause.
"Also wenn ich das nur..."
Pause.
"Das stand ja gar nicht auf ihrer Reservierung..."
Sie hält einen Zettel hoch, der sicher meine Reservierung ist.
"Wir hätten ihnen doch auch... warten sie mal kurz."
Unsicherheit. Sie tippt in ihrem Computer herum.
"Also wir würden uns freuen, wenn wir ihnen ein Upgrade anbieten können. Junior-Suite. Also zum gleichen Preis wie das Einzelzimmer. Also Mini-Bar und das Entertainment-Paket sind selbstverständlich inklusive."
Ich nehme das Upgrade und sie tippt wieder im Computer herum, steckt eine Plastikkarte in ein Plastikkartenlesegerät und reicht sie mir dann über den Tresen.
"Zimmer 803. Also mit dem Fahrstuhl in den achten Stock und dann rechts."
Die professionelle Freundlichkeit kehrt wieder in ihre Stimme zurück.
"Ach und mit dem Schlüssel..."
"Morgen!" Sage ich.
"Morgen!" Sagt sie.

Die Fahrstuhltüren schließen und die Welt geht für einen Moment aus. Ich bin allein.
Erster Stock.
Seit einem Jahr bin ich schon allein. Nach der Einführungsphase mit Herrn Weber werde ich einfach losgeschickt. Kaltes Wasser, sagen sie. Ich bekomme mein eigenes Auto und meine eigenen Kunden. Verstreut. Über das ganze Land.
Zweiter Stock.
Ich fahre schnell. Am Anfang. Das erste Mal mit zweihundert, das erste Mal mit zweihundertzwanzig. Schnell fahren macht Spaß, schnell fahren macht süchtig. Das erste Mal Lichthupe, das erste Mal rechts überholen. Ich habe sieben Punkte in Flensburg. Nach einem Jahr. Unter Kollegen kann man mit so etwas angeben. 
Dritter Stock.
Ich kaufe mir vier Anzüge und einen Koffer. Empfehlungen von Herrn Weber. Dreitausend Euro. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. "Hast du alles am Jahresende wieder drin, mit dem Bonus!" Hat Herr Weber gesagt.
Vierter Stock.
Ich kenne die Autobahnverbindungen auswendig. Das Navigationssystem ist nur noch für die Städte da. Und für Staus. Und für Sperrungen. Und Baustellen. "Achtung, Verkehrsstörung!" Helle, kratzige Roboterfrauenstimme. Einhunderzwanzigtausendkilometer.
Fünfter Stock.
Ich sehe das ganze Land. Die dicken Autos und großen Villen im Süden. Die zunehmende Sportwagendichte um Stuttgart und München. Die ausgestorbenen Innenstädte im Westen. Die Aldi-Edeka-Parkplatz Versorgungsinseln am Stadtrand. Die kleinen, vorgartenlosen Dörfer im Osten, deren niedrige Häuser sich so dicht an den Straßenrand drängen, dass man meinen könnte, sie würden darauf warten, dass irgendwer sie abholt und mitnimmt. Mit nach Berlin. Die langen, linealgeraden Straßen im Norden. Die Horizonte. Windräder.
Sechster Stock.
Ich weiß gar nicht mehr, wie das alles angefangen hat. Ich glaube, ich bin einfach im Auto sitzen geblieben. Auf dem Besucherparkplatz bei einem Kunden. Ich wollte niemanden sehen. Erst für zehn Minuten, irgendwann für zwanzig, dann dreißig. Noch einen Song, noch zwei. Ich erfinde Ausreden. Wichtiger Anruf, Notebookpanne. Sie wissen schon. Kann ja mal passieren. Kommt nicht wieder vor. Ich lerne richtig gut zu lügen. Ich biege auf Feldwege ab, halte in Wäldern an, telefoniere. Wird später, stehe im Stau. Vollsperrung. Etwa zwei Stunden. Ich schaue auf Felder. Noch ein Song, noch zwei. Ich schlafe in Wäldern. Der Sommer wird zum Herbst. Immer mehr Blätter auf der Windschutzscheibe. Ich lerne mich richtig gut zu belügen. 
Dann ist da noch etwas. Ich habe Heimweh. Wohin? Das weiß ich nicht genau.

Siebter Stock.
Das Büro meines Vorgesetzten ist ein Reinraum. Weiße Möbel, weiße Ordner, weißer Riesencomputermonitor. Auf dem Schreibtisch nur ein weißer Zettel und darauf viel rote Farbe. Textmarkergeschmiere."Also ihre Zahlen hier, das ist überhaupt nicht gut!" Rote Farbe auf dem Zettel, rote Farbe in meinem Gesicht. "Hier, Fünfundachtzig Prozent zum Vorjahr!" Finger zeigen. "Hiernurdreiundsechtzigprozent!" Prozente, Vorjahre, Finger. Rote Farbe in seinem Gesicht. Vorjahre, Umsätze, Renditen. Ich höre auf zuzuhören. Dann irgendwann nichts mehr und nur noch weiß und er und ich und der Zettel. Schweigen. Ich will aufstehen. Ich will hinausgehen.
"Haben sie jetzt gar nichts dazu zu sagen?" Dunkelrotes Gesicht.Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick kurz über all diese Ordner schweifen. So sauber und schön beschriftet. Überall rechte Winkel. Ich muss an Herrn Weber denken und versuche mir vorzustellen, was er jetzt an meiner Stelle sagen würde. Selbstbewusst, forsch. Herr Weber würde das wieder hinkriegen. Ganz leicht. Wie wenig ähnlich wir uns sind. Wie leicht es wäre, so zu werden wie er. Wie sehr ich mich dafür hassen würde. Dann werde ich ganz ruhig."Ich kündige!"

Achter Stock.
"Guten Tag Herr/Frau XXXXX! Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Hause! Besuchen Sie doch unser Panorama-Restaurant im 9. Stock!" Wieder überall blau. Der Fernseher flackert seinen anonymisierten Begrüßungstext in die Junior-Suite hinein. Irgendwo in einem Einzelzimmer der unteren Stockwerke wird sicher mein Name zu lesen sein.

Das Entertainment-Paket besteht aus drei Bezahlsendern und zwei Pornokanälen. Ich wähle einen der beiden, drehe den Ton leiser, falle auf das Bett. Die Hand wandert in die Hose. Dann fällt mir Herr Weber ein und ich mache den Fernseher aus.

Martin ist schon sehr betrunken. Das soll er auch sein. Das ist so gewollt. Andernfalls wäre das sicher sechsstellige Budget der Weihnachtsfeier auch falsch investiert gewesen. Das große Zelt, die Tänzer, das Showprogramm, die Preise. "...lassen sich ja immer was einfallen...  fast noch besser als vor zwei Jahren in... soll ein kleines Dankeschön für ihre guten Leistungen sein..." Weihnachtsfeiern halten ein ganzes Jahr nach. Manchmal mehrere Jahre. Das Weihnachten hier schon im Oktober ist, fällt nicht weiter ins Gewicht.

Ich bin zum ersten Mal dabei und für Martin ist es die zweite Weihnachtsfeier. Er ist der einzige Mensch den ich hier duze. Um ihn herum noch zwei ältere Männer aus seiner Außendienstgruppe, deren Namen ich nicht kenne. Sie spielen Quartett, vergleichen KW und PS, Vmax und Gewicht, die Fahrzeugscheine in den Händen. Irgendwann wird es ihnen langweilig und ein angetrunkener Namenloser spricht mich lallend an.

"Du warst doch mit dem Weber unterwegs, oder?" Glasige Blicke."Bei welcher wart ihr denn?" Gierige Blicke."Ja wie? Bei welcher? Willste sagen der hat dich nie mitgenommen?" Enttäuschte Blicke."Dann mag er dich vielleicht nicht!" Belustigte Blicke."Warste nie mit dem abends einen trinken?" Ungläubige Blicke.

Manchmal braucht es nur ein ein kleines Stück und das Puzzle setzt sich von selbst zusammen. Die Wohnmobile am Straßenrand mit dem roten Licht in der Windschutzscheibe und der Fuß, der leicht vom Gas geht. Das Verschwinden am Abend und der Geruch von Alkohol und Parfum am Frühstückstisch. Die Unruhe davor und die Ruhe danach. Ich habe das nie angesprochen. Habe gedacht, er würde vielleicht in irgendeiner Kneipe verschwinden. Habe gesagt, dass ich dann fahren würde am Vormittag. Sicherheitshalber. Bin oft vormittags gefahren.

Martin erzählt mir dann irgendwann später am Abend von Herrn Weber. Die ganze Geschichte. Von seiner Familie. Seiner Frau, seiner Tochter. Davon, wie das alles dann zu Bruch gegangen ist, als die Bombe hochging. Davon, wie seine Tochter nicht mehr mit ihm redet. Wie sie fortgelaufen ist. Und ich kann nur denken, wie man wirklich aufpassen muss, dass man bei all diesem Losfahren und Hinfahren und Wegfahren das Ankommen nicht verlernt. 

Die rosa Schaumsoße wird erst immer flüssiger und dann zu einem dünnen roten Faden. Himbeersirup, denke ich. Ich spüle die Zahnbürste aus und dann meinen Mund. Irgendwann muss ich zum Zahnarzt, denke ich. Irgendetwas ist da abgebrochen.

Der Badezimmerventilator faucht im Hintergrund, als ich zurück in das Hotelzimmer trete. Alles hat hier seinen Platz. Die Schuhe, der Koffer und der Kleidersack. Die Aktentasche und das Notebook. Wie das alles einfach ausreicht. Wie wenig Dinge ich wirklich brauche.

Noch ein Monat und ich bin hier weg. Weg ist auch schon mein Auto, weg sind meine Kunden. Innendienst. Strafversetzung. Abstellgleis. Ich mache den Dreck. Jedenfalls hat Martin es so genannt. Ich sortiere Akten, prüfe Rabatte, bearbeite Reklamationen. Es gibt schon einen Ersatzspieler. Alexander heißt er, ist Trainee und ganz aufgeregt, dass es bald losgeht mit seiner Mitreise. 

Wenn in der Mittagspause alle in die Kantine stürzen, dann wird es mit einem mal ganz ruhig. Keine Telefonate, keine Meetings, kein Jour-Fixe. In die Ruhe hinein dann Computerlüfterbrummen, Netzteilsummen. Elektronikhintergrundrauschen. Ich hole mein Brot aus dem Rucksack, beiße ab, schaue aus dem Fenster. Draußen Regen und Wind. 

Mein Vorgesetzter geht mit Alexander über den Parkplatz, bleibt vor meinem alten Auto stehen, überreicht die Schlüssel. Alexander geht um den Wagen herum, der Wind zerzaust ihm die Haare. Er lächelt, spricht. Dann sieht er hoch und mich am Fenster sitzen. Er winkt und zeigt mit der freien Hand auf den Schlüssel in der anderen, lächelt wieder. Ich lege das Brot auf den Tisch, hebe den Arm und strecke den Daumen in die Luft.

Die Asiaten machen Lärm. Sitzen da und sprechen in diesen quäkigen Lauten. Man kann sie im ganzen Frühstückssaal hören. Sitzen da in ihren Anzügen und brüllen sich gegenseitig an. Sitzen da mit ihren riesigen Portionen, die sie doch niemals aufessen können. Als würde es nicht reichlich geben, als würde es nicht genügen.

Auf dem Namensschild steht "Direktor". Ganz klein unter dem Namen, als wäre es nicht weiter wichtig. Und doch steht es da. Der Mann grüßt und steht kurz da als müsse er nachdenken, was er gleich sagen soll. Das hier ist ihm unangenehm, das ist ganz leicht zu erkennen.

"Ich...ähhh...ich hoffe sie haben gut geschlafen?!"
Er wartet die Antwort nicht ab, redet direkt weiter.
"Wir möchten uns für die ... mhhh ... Unanehmlichkeiten entschuldigen und würden uns freuen, die Kosten für ihren Aufenthalt übernehmen zu dürfen."
Ich weiß nicht, was ich sagen soll und noch bevor ich eine Antwort beisammen habe streckt er mir seine Hand entgegen.
"Ich... ähhh... möchte natürlich auch mein ganz persönliches Beileid ausdrücken."
Ich reiche die Hand und schüttle seine.
"Danke. Das ist ja nicht ihre Schuld."

Ich bekomme meine Augen nicht los von diesen Ordnern. Wer macht so etwas? Wer betreibt so einen Aufwand? Diese präzise aufgeklebten Etiketten. Die aufsteigende Nummerierung. "Herr Weber ist tot." 

"Aha." Hätte ich beinahe geantwortet. So, als ob der Satz, der da jetzt im Raum zwischen uns steht, nur irgendeiner gewesen wäre. So, als wäre es mir egal. So, als hätten wir nicht alle irgendwann damit gerechnet. Als wäre es eine akzeptable Möglichkeit. Als hätte ich nicht schon immer über all das nachgedacht, was passieren kann. 

Die kleine Unaufmerksamkeit bei hoher Geschwindigkeit. Die übersehene rote Ampel. Der geplatzte Reifen auf der Autobahn. Spurwechsel ohne Blick in den Rückspiegel. Vierzigtonner und Stauenden. Die junge Mutter, die auf die Gegenfahrbahn gerät, als sie nach ihrem schreienden Kind auf dem Rücksitz schaut. Feuchtes Laub in Kurven. Sekundenschlaf. Blitzeis. Wo hört der Zufall auf? Wo fängt Statistik an? Ich habe noch immer nichts gesagt, den richtigen Moment verpasst.

"Sie holen den Wagen zurück. Und alle Unterlagen, die Firmeneigentum sind." Mein Vorgesetzter schiebt Zettel über den Tisch. "Ihre Hotelbuchung und ihr Bahnticket. Der Wagen steht auf dem Parkplatz, die Tasche hat das Personal schon in den Kofferraum geladen nachdem sie das Zimmer geräumt haben. Und jetzt machen sie mal!"

Das große Stück, das aus dem Waschbecken herausgerissen ist. Der Haartrockner, der am Kabel der Wandhalterung hängt und hin und her baumelt und noch immer wie wild pustet, als müsse er das alles noch trocknen. Als könne er all das Blut auf den Fliesen trocknen. Als würde dann alles wieder gut werden. 

Die weißen Bettlaken und Decken, die so sauber aussehen sollen, aber alles sichtbar machen. All die Haare und Hautschuppen. Die durchgelegene Matratze. Darauf ein Körper, der aussieht, als würde er schlafen. Als würde er immer weiter schlafen. Der Fernseher, der noch läuft. Frühstücksprogramm. Es wäre Zeit jetzt aufzustehen.

Der Wind, der all die kleinen Hinweisschilder und Papieraufsteller durch den Raum geweht hat. Der Wind, der langsam durch die Fernsehzeitung blättert und das geöffnete Fenster immer wieder gegen den Rahmen schlagen lässt. Der Schatten unten im Gras, acht Stockwerke tiefer.

Die Gestalt, die Mitten im Raum zu schweben scheint. Der Ledergürtel, der einmal über hundert Euro gekostet hat und all das Gewicht, das jetzt an im hängt, so spielend hält. Ich habe nie gefragt, wie es wirklich war. Ich habe das nicht wissen wollen, weil das so viel geändert hätte. In die eine oder andere Richtung.

"Ich bräuchte noch die Schlüssel und die Papiere vom Wagen. Und mit der Bezahlung, da hat ihr Chef..."
"Ich weiß schon bescheid!" Die Dame an der Rezeption ist eine andere als gestern.
"Warten Sie mal kurz, ihre Unterlagen habe ich in unserem Safe." Sie dreht sich um und verschwindet in einem Büro.

Ich stehe am Tresen und schaue auf das Holzkästchen mit den Broschüren von Ausflugszielen der Region. Einen Wildpark gibt es hier. Eine Brauerei kann man besichtigen. Eine Liste mit ortsansässigen Ärzten und Apotheken. Für den Fall der Fälle. Ich schaue in die Lobby. Die große Glasfront und die beiden Automatiktüren, die das Kalte draußen und das Warme drinnen halten.

Haben sie ihn da durchgeschoben? An den Blicken der gierigen Asiaten vorbei? Vielleicht doch durch den Hinterausgang? Mit einem Serviceaufzug? Gibt es für solche Fälle Regelungen? Leitfäden von der Zentrale? Pläne in Schubladen? Wer entscheidet so etwas?
Die Dame ist aus dem Hinterzimmer zurück und legt einen Schlüssel und die Mappe mit dem Fahrzeugschein auf den Tresen.

"Wenn sie jetzt noch hier kurz den Erhalt quittieren würden?! Nur zur Sicherheit." Ich unterschreibe, nehme beides in die Hand, grüße, greife meinen Koffer und wende mich zum Gehen.
Aus der Mappe fällt ein kleines Stück Papier, überschlägt sich in der Luft, kommt mit der bedruckten Seite auf dem Boden auf und gleitet noch für einen halben Meter über die spiegelglatten Fliesenplatten. Ich gehe hinterher, bücke mich, hebe es auf. Ein Foto.

Das Mädchen ist vielleicht achtzehn oder neunzehn. Wie hübsch es ist. Sitzt auf einem Baumstumpf und drumerhum sind Wald und Blätter und Herbst. Das Foto ist etwas abgegriffen und das Mädchen wird mittlerweile sicher älter sein. Ich weiß nicht genau warum, aber ich bin mir in diesem Moment sehr sicher. Hatte er das Foto gemacht? Warum hatte er nie erwähnt, dass er eine Tochter hatte? Das hätte man doch erzählen können. In all den Stunden im Auto. Da wäre doch nichts dabei gewesen.

Ich schaue kurz zurück. Die Dame an der Rezeption telefoniert und blickt auf ihren Computerbildschirm. Ich schaue auf das Foto. Dann falte ich es einmal in der Mitte und stecke es in meine Hosentasche.

Mittwoch, Mai 18, 2011

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Samstag, Februar 21, 2009

Kapitel I - Sonderfahrt

kapitel1

 

Es waren diese Morgen im Sommer, die nach Sonnenaufgang noch nicht sicher waren, ob sie zu richtigen Sommertagen werden sollten. Jene Morgen, an denen noch eine Spur Tau auf den Wiesen haftete und wo alles anfangs noch ein wenig dunstverhangen war, nur um dann später, so gegen Mittag, den ganzen Dunst von der Sonne wegbrennen zu lassen und in diese prächtigen Stunden zu wechseln, in denen es zwar warm, nie aber heiß war.

Ich bereute, dass ich mich gegen die Jacke gewehrt hatte in die meine Mutter mich noch vor Minuten hineinzwingen wollte, hätte das aber nie zugegeben, versuchte stattdessen, mich in Bewegung zu halten, mich zu wärmen, nicht zu frieren. So hampelte ich auf dem Bürgersteig herum. Um acht Uhr war es einfach noch zu kalt für T-Shirts.

Ich kannte ein paar der anderen. Einige aus der Schule, einige aus der Gegend, einer der Bruder von demunddem, eine die Schwester von derundder. Schon mal gesehen, ohne zu reden. Ich mochte keinen von ihnen besonders gern leiden und überlegte, was meine Freunde in den Sommerferien machen würden und stellte mir vor, wie sie den Großglockner besteigen, nach Kreta fahren oder ihre Familie im neuen Osten besuchen würden und stellte mir weiter vor, wie ich bei all dem dabei wäre und befand, dass das Dabeisein auf jeden Fall besser sein musste als einige Meter vom Elternhaus entfernt an der Straße zu stehen und zu warten.

Während ich also stand und fror hörte ich den anderen Jungen - die Mädchen standen abseits - dabei zu wie sie neueste Gameboyspiele beschrieben, aufzählten, wem ihr großer Bruder schon alles auf die Schnauze gehauen hatte, das Fernsehprogramm des Vorabends nacherzählten, Diskussionen über die tötlichste Kampfkunst führten - am Ende gewann stets der Ninja - oder an den Namen der alten Kindergärtnerin, die im Haus gegenüber wohnte, eine Vorsilbe anhängten und dann abwechselnd laut riefen. Die Kindergärtnerin hieß Frau Dom.

Ich war froh wenn der Bus kam. Manchmal war es ein Linienbus, an dem man das Schild, auf dem sonst Sachen wie "Linie 21, Hassenbruch" standen, durch eines ersetzt hatte auf dem "Sonderfahrt" zu lesen war und das nie gerade hinter dieser Scheibe aus Glas oder Plastik hing, sondern das zu einer Seite immer ein wenig in den Busschildkasten hinabfiel und aussah, als wolle es sich vor der Außenwelt verstecken und deshalb den ganzen Bus ein wenig traurig aussehen ließ wenn man ihn von Weitem sah.

Wenn der Linienbus anderswo benötigt wurde, und das war häufig, kam ein alter dunkelblauer Reisebus zum Einsatz auf dem hellblaue Flächen so etwas wie Wellen darstellen sollten auf denen wiederum dann der Name des Busunternehmens stand. "Sauer Reisen". In lila.

Nachdem der Bus sich an den Gehweg herangebremst hatte und dabei meist irgendjemanden beinahe überrollte, zischten erst die Bremsen laut und dann zischte es noch einmal, als der Busfahrer versuchte die Türe zu öffnen. Manchmal brauchte es zwei oder drei Versuche, während derer der Fahrer immer heftiger auf einen Knopf auf der Schalttafel vor seinem runden Bauch einschlug, weil die Tür stets klemmte und sich nur unter quietschendem Protest öffnen lassen wollte.

Einige Jungen rotzten noch schnell Kaugummis in den Rinnstein und wuchteten sich dann mit geöffnetem Mund die drei enorm steilen Stufen hinauf um schließlich am Busfahrer vorbei den kleinen kunstlederbezogenen, federnden Riegel zu passieren, der den Einstiegsbereich vom Fahrgastraum trennte.

Am ersten Tag hatte der Busfahrer einen Kaugummikauer erwischt, daraufhin einen riesigen Aufstand veranstaltet, gedroht, nicht mehr weiter zu fahren und bei jedem Zustieg gebrüllt, dass Kaugummis streng verboten wären. Er ließ fortan jeden nur noch mit geöffnetem Mund einsteigen, damit er sich selbst davon überzeugen konnte, dass der Bus kaugummifrei sei. Wir fügten uns ohne zu klagen.

Ich war froh, an der ersten Station zusteigen zu können. So waren noch alle Plätze unbesetzt und ich entschied mich stets für einen Platz auf der linken Seite in der Nähe eines dieser kleinen roten Nothämmerlein. Ich glaubte der Bus würde, wenn er von der Straße abkommen würde, mit höherer Wahrscheinlichkeit nach rechts ausbrechen, was dann wiederum bedeuten würde, dass er, würde er aus dem Gleichgewicht kommen, auf die rechte Seite kippen müsste. In einem solchen Unglück war es sicher besser wenn man nicht in einige Metern von einem kleinen roten Nothämmerlein entfernt auf der neuen Unterseite des Fahrzeugs saß.

Während ich noch einen Platz suchte, der meine Sicherheitsbedenken erfüllte, fuhr der Bus an.

Radiohead - Prove Yourself & I Can't (1993)

Dienstag, Februar 03, 2009

Carts of Darkness

Murray Siple's feature-length documentary follows a group of homeless men who have combined bottle picking with the extreme sport of racing shopping carts down the steep hills of North Vancouver. This subculture depicts street life as much more than the stereotypes portrayed in mainstream media. The film takes a deep look into the lives of the men who race carts, the adversity they face and the appeal of cart racing despite the risk.

Sehr gut. Anschauen.

Montag, Januar 26, 2009

Der Arne

arne

Da meine internetverseuchte Aufmerksamkeitsspanne nur noch Konzentration in Minutenlänge zulässt, habe ich mir in letzter Zeit einige Graphic Novels zugelegt, bin darüber dann irgendwann bei Acht, Neun, Zehn von Arne Bellstorf gelandet, war davon ziemlich begeistert und bin so auf bellstorf.com gestoßen, wo der Arne farbarme Szenen und Kurzgeschichten zeigt, denen stets eine gewisse Melancholie anhaftet, die aber am Ende näher dran sind an der Wirklichkeit als das viele dicke Bücher von sich behaupten können, und die ich, würde ich den Berliner Tagesspiegel lesen, stets sorgsam ausschneiden und in ein graues Album einkleben würde. Großartig.

Mittwoch, Januar 21, 2009

Schon wieder tote Tiere.

getty

Oder: Die erschlagene Schnake und die Getty-Werbung.

Zufall kommt von fallen.

Montag, Januar 12, 2009

Die weiteren Aussichten

"Lauf, Finn! Jetzt mach doch mal!"

Du hast keine Ahnung, ob Finn jetzt mal macht, oder ob er überhaupt läuft. Es ist dir auch egal, wer von denen da jetzt überhaupt Finn ist. Man entwickelt da mit der Zeit eine gewisse Gleichgültigkeit für all das Geschreie und Gerufe von Fußballeltern, die ihre Sprösslinge mit der eigenen Stimme zum Erfolg peitschen wollen. All die Finns und Tims und Kevins, die sich einige Meter vor dir um einen Ball versammeln und eifrig mit ihren kleinen Füßchen in die Gegend treten und dabei mal den überproportional groß wirkenden Ball und mal einen Gegenspieler treffen, all diese Leons, Lukasse und Clarks nehmen die ganze Sache dann doch ein wenig zu ernst, denkst du. Tränen sind bei sowas keine Seltenheit.

die_weiteren_aussichten

Man sollte seine Kinder nicht Fußball spielen lassen, denkst du, jedenfalls nicht so. Charakterentwicklung hin oder her, was am Ende dabei herauskommt, das sieht man doch, in der C, B und A-Jugend. Alles irgendsowelche Irokesenfrisuren, die den lieben langen Tag nur fluchen und auf den Boden rotzen.

Kinderfußball ist immer dankbar, denkst du. Kinder und Tiere, die gehen immer. Das hat Henry Nannen mal gesagt. Jedenfalls irgendwie so. Vielleicht jemand anders, vielleicht niemand. Ist ja eigentlich auch egal, es stimmt jedenfalls. Außerdem sind Kinderfußballfotos erstaunlich einfach in der Produktion. Du setzt sich auf den Boden und hältst dann einfach ins Gewusel hinein, weil sie sich alle ohnehin immer auf den Ball stürzen wie die Blöden. Da kommen dann Bilder bei raus, die treiben den Fußballeltern am Frühstückstisch die Tränen in die Augen und dann rennen sie in die Redaktion und wollen die Bilder auf CD gebrannt haben. So ist das.

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Takka takka. Dir fällt dieses Bild ein, von Lichtenstein, bei dem übermüdete Soldaten in irgendeinem Dschungel einen unsichtbaren Gegner mit Maschinengewehrsperrfeuer belegen. Takka takka. Die Kamera rumpelt. Eine vierhundertstel Sekunde für die Belichtung, in einer Sekunde acht Bilder. Takka takka. Übermüdet bist du auch. Die kleinen Gestalten im Halbfeld siehst du nur unscharf. Das hier könnte auch ein Dschungel sein. Irgendwo auf einer Pazifikinsel. Takka takka.

Das Licht ist scheiße, denkst du. Drei Blenden Unterschied, denkst du, von der rechten zur linken Hallenseite. Das ist nicht gut, denkst du. Und dann denkst du, dass du in letzter Zeit sowieso ziemlich viel über Licht redest und überlegst, dass das deiner Religionslehrerin von früher sicher ganz gut gefallen hätte.

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Du willst dich nicht lang bei den Kreismeisterschaften der F-Junioren aufhalten, weil da ohnehin kaum Manschaften aus deiner Stadt spielen und dir außerdem das Licht nicht passt und es dann halt weniger Fotos gibt, wenn die das nicht gescheit hinbekommen, das mit dem Licht.

Beim Hinausgehen schlängelst du dich durch die Massen an schreienden Eltern, die teilweise selbst im Trainingsanzug erscheinen, auf denen dann irgendwelche Vereinsbezeichnungen stehen und vermutlich Symbol dafür sind, dass sie mit in irgendeiner offiziell-organisatorischen Aufgabe betraut sind, die es wiederum nötig macht, einen solchen Trainingsanzug zu tragen.

Dann siehst du Simone. Du kennst Simone eigentlich gar nicht richtig. Simone war mal die Bekannte eines Freundes gewesen. Das ist aber nun schon einige Jahre her. Jedenfalls stand dein Freund damals ziemlich auf Simone und irgendwann hat er dir dann erzählt, dass Simone schon ein Kind hatte, dass sie alleine groß zog, weil sie sich da wohl irgendwie den falschen Mann ausgesucht hatte, zum Kinder machen, oder besser gesagt zum Kinder großziehen.

Aus den beiden ist dann nie etwas geworden, also aus deinem Freund und Simone, weil sich Simone dann irgendwann ihren besten Freund zum Ehemann nahm, nur um dann von ihm betrogen zu werden. Ja ja, denkst du und hast dann so einen dieser Momente, für die solch Allgemeinplätze wie "So spielt das Leben" immer noch die beste Beschreibung sind, auch wenn du jedes Mal kotzen könntest, wenn du in solchen Phrasen denkst.

Und dann denkst du, wie seltsam es ist, dass Simone da jetzt vor dir steht und ihren Sohn, den Max, in so ein Miniaturtrikot gesteckt hat und nun dabei ist, diese Welt aus Fußballeltern und Fußballkindern zu betreten um ein Teil von ihr zu werden, während du es hier gewiss nicht länger als eine halbe Stunde ausgehalten hättest.

Du gehst an den beiden vorbei und durch die Tür hinaus auf den Waschbetonvorhof der Sporthalle, wo rauchende Fußballeltern in Trainingsanzügen zwischen ausgetretenen Zigarrettenstummeln und weißschaumigen Rotzflecken stehen und dann gehst du weiter durch diese sterile Winterluft zu deinem Auto, was du im Halteverbot geparkt hast und setzt dich hinein und dann fährst du los und fährst so eine ganze Weile mit leicht überhöhter Geschwindigkeit und lässt den Drehzahlmesser ein wenig tanzen, während du darüber nachdenkst, wie das wohl ist, wenn man Simone ist und jetzt den halben Sonntag am Geländer einer miefigen Sporthalle steht und einem kleinen Jungen beim Fußballspielen zusieht.

Dann biegst du schließlich in eine Straße ein, an deren eine Seite ein Wald und an deren andere Seite ein Wohngebiet heranreicht und parkst direkt vor einem Halteverbotsschild, weil genau an dieser Stelle der kürzteste Weg zum Sportplatz liegt, auf dem in einer Stunde die C-Jugend des größten Fußballvereins der Stadt gegen sonstwen spielen soll. Du hast also noch Zeit. Du drehst den Zündschlüssel, der Drehzahlmesser hört auf zu tanzen, schläft nun.

Man hätte vorher daran denken können, denkst du, hätte ein Buch mitnehmen sollen, oder ein Magazin. Etwas, das Wartezeiten überbrückt. Etwas, das vorspult. Hätte man. Hat man aber nicht. Da sind nur die Laugenstange, die Wasserflasche, der Fotorucksack und die CD, die schon den ganzen Tag nur einen einzigen Song auf Dauerrepeat ausspuckt.

Dann musst du wohl mal nachdenken, denkst du und überlegst dann, worüber es sich nachzudenken lohnen würde und da fällt dir nichts ein, jedenfalls nichts, was zu Ort und Uhrzeit passen will und so sitzt du einfach nur da, mischst aus Laugenstange und Wasser so etwas wie eine Mahlzeit und drückst die CD wieder zurück, sobald dieser eine wunderbare Song zum Ende kommt.

Irgendwann denkst du dann, dass das gar nicht so verkehrt ist, einfach dazusitzen, im Auto am Seitenstreifen einer Straße, an deren eine Seite ein Wald und an deren andere Seite ein Wohngebiet heranreicht und Laugenstange mit Wasser zu genießen. So lässt es sich doch aushalten, denkst du und du überlegst, dass dann vermutlich Privatdetektiv ein ganz passabler Beruf sein müsste, weil Privatdetektive ja auch hauptsächlich neben Fotoapperaten in Autos hocken und Gebäck verspeisen und du beginnst dich zu fragen, ob die Leute aus dem Wohngebiet dich wohl für einen Privatdetektiv halten würden, wenn sie aus ihren Fenstern blickten und dort einen finster dreinblickenden Mann in einem Auto sähen, der Laugenstangen mit Wasser verzehrt.

Deine Gedanken werden jäh unterbrochen, als sich im linken Außenspiegel ein Schatten regt und nach kurzer Zeit die zotteligen Umrisse eines Bobtails sichtbar werden, der langsam hin und her wankt und eine Leine um den Hals trägt, deren anderes Ende du nicht noch nicht erkennen kannst, weil dort, wo man den Menschen vermuten würde, der Spiegel aufhört. Erst willst du ein wenig im Sitz hinunterrutschen, damit der Spiegel weiter an den vermeintlichen Hundeführer heranreichen kann, aber denkst dann, dass Privatdetektive ja wahrscheinlich auch nicht in ihren Autos herumrutschen würden, weil sie ja keine große Aufmerksamkeit erregen wollten und so bleibst du einfach gerade sitzen und wartest ab.

Der Mann mit der Leine und dem Bobtail geht vorbei und du musste grinsen, als du siehst, wie der Mann in seiner Gangart doch seinem Hund gleicht und wie seine Haarfarbe auch der des zotteligen Tier am Leinenende gleicht und wie sich beide eigentlich in so vielem so ziemlich gleichen. Das ist schön, denkst du.

Irgendwann verschwinden sie dann hinter einer Kurve und es gibt bis auf die trächtige Katze, die in einem Vorgarten des Wohngebiets herumschleicht, eigentlich nichts zu besehen. Von Zeit zu Zeit fahren Autos vorbei und du versuchst deinen detektivischen Sinn zu trainieren, indem du dir die Nummernschilder zu merken versuchst und musst feststellen, dass es mit deinem Gedächtnis für derlei Feinheiten wohl nicht weit her ist und du vermutlich nicht zum Privatdetektiv taugen würdest, oder aber in jedem Fall einen Notizblock und Stift benötigen würdest, um all die Nummernschilder gewissenhaft memorieren zu können.

So siehst du weiter der Katze zu und wenn ein Auto kommt, dann verfolgst du es durch Rückspiegel, Außenspiegel, Seitenscheibe und Windschutzscheibe. Oder in der umgekehrten Reihenfolge, je nach Fahrtrichtung. Man müsste mal, schießt es dir durch den Kopf, man müsste mal eine Kamera in den Rückspiegel eines Autos einbauen. Damit würden sich prächtige Bilder an Ampeln oder auf Autobahnen schießen lassen und dann könnte man ein Buch herausgeben und das würde man dann "Rückspiegelromanzen" oder so ähnlich nennen und man würde es in der Berichterstattung nach Herausgabe des Buches bestimmt auf die Kulturseite einer gelangweilten Wochenendausgabe einer Regionalzeitung bringen.

Du beschließt, diesen Gedanken später weiter zu verfolgen und blickst wieder der Katze hinterher und lässt den Blick schweifen über Wohngebiet und Wald und skippst den Song immer auf Anfang zurück, weil er dir gerade so gut gefällt in diesem Moment. Irgendwann, es dauert einige Zeit, bis es mir auffällt, verfängt sich dein Blick an einem grauen Stromverteilerkasten und es dauert noch einige Zeit mehr, bis dir der Grund dafür erkennbar wird.

Auf den Stromverteilerkasten hat jemand mit Sprühfarbe die Buchstaben "DCV" gekrakelt. "DCV", fällt dir ein, das steht nicht nur an diesem einen Stromkasten, "DCV" ist überall, dieses hässliche, eben hingeschmierte Sprühdosen-Tag gehört ebenso in das Gesamtbild deiner Heimatstadt wie das alte Rathaus, die Stadtmauerreste oder die große Kirche. "DCV" steht auf Parkbänken, unter Fußgängerüberwegen und an Altenheimmauern, an Klettergerüsten, Schallschutzwänden, Papierkörben, Straßenschildern und jenen Schaukästen, in denen die Kirchen ihre Bekanntmachungen und Gemeindebriefe aushängen.

Man müsste, überlegst du, man müsste daraus etwas machen, also aus den zahllosen "DCV"-Tags an diesem einen Ort. Man könnte, denkst du weiter, man könnte doch all diese vielen Ds und Cs und Vs einmal fotografieren. So richtig schön. Damit würde man dann eine Ausstellung machen, die man "Who are you, DCV" nennen könnte und dem Kulturdezernenten der Stadt würde bei der Ausstellungseröffnung schon eine prima Interpretation des Ganzen einfallen, wenn er seine Einführungsrede hielte. Du legst diesen Gedanken direkt neben der Idee zu den "Rückspiegelromanzen" ab.

Die Zeit verstreicht und du bist schon kurz davor, dein Leben als Privatdetektiv hinzuschmeißen, weil das einzig Spannende der letzten Minuten diese beiden Damen waren, die in ihren ewigbraunen Herbstmänteln an deinem Auto vorbei geschlichen sind, als aus dem Wald mit einem Male zwei Jungen herausstürmen. Der eine hat einen blauen Fahrradhelm auf dem Kopf, der ihn wie einen kleinen Ingenieur wirken lässt, denkst du, wie auf diesen Baustellenfotos, wo Ingenieure sich ständig mit irgendwelchen Plänen oder ultrarobusten Notebooks abbilden lassen und dabei stets blaue Helme tragen. Der andere Junge trägt keinen Helm.

Beide treiben irgendwoher eine leere Colaflasche auf und beginnen, mit Steinen auf die Flasche zu werfen. Nach einem Dutzend Steinen wird ihnen das langweilig und der Helmjunge hebt die Flasche auf, wirft sie in die Luft und fängt sie wieder auf. Er wirft sie noch einmal in die Luft, so dass die Flasche sich in der Luft dreht, fängt sie wieder auf. Wirft höher, dreht schneller, fängt wieder. Irgendwann verfehlt er die Flasche und sie schlägt auf dem Gras neben der Straße auf, bleibt heil.

Der Junge ohne Helm hebt die Flasche auf und wirft sie mit aller Kraft auf den Asphalt. Die Flasche zerplatzt, die Jungen tanzen kurz um die Scherben herum, dann verschwinden sie wieder im Wald.

Die Uhr lässt dich die Laugenstangenkrümel von deiner Jacke wischen, das CD-Radio ausschalten, die Kamera mit Teleobjektiv aus dem Rucksack rupfen und langsam den Weg hinunter zum Fußballplatz schlendern. Die Luft ist noch immer kühl und das findest du gut. Besser, denkst du, besser als wenn es zu warm wäre.

Auf dem Sportplatz stehen Jungen mit Irokesenfrisuren, die, nach Trikotfarbe sortiert, in kleineren und größeren Haufen umherstehen, auf den hart gefrorenen Boden rotzen und sich lustlos Bälle zupassen um warm zu bleiben. Am Rand laufen die beiden Trainer fortwährend auf und ab und rauchen dabei eine Zigarette nach der anderen um warm zu bleiben. Naja, denkst du, das hat wohl noch nicht angefangen. Mal abwarten, denkst du, mal abwarten ob etwas passiert.

Du lehnst dich an den grünen Metallzaun, der das gesamte Spielfeld abgrenzt und schaust mal auf die Irokesenfrisuren, mal auf den gefrorenen Boden, der hier und da von einer weißen Schicht aus Eis bedeckt ist und mal schaust du in den Himmel, der sich nicht zwischen leicht bewölkt und strahlend blau entscheiden kann.

Irgendwann kommt dann ein Schiedsrichter auf den Platz und geht direkt zu den Trainern auf der anderen Seite des Spielfeldes, spricht mit beiden, zeigt auf den Boden, zeigt auf die Irokesenfrisurjungen, zeigt wieder auf den Boden. Einer der Trainer beginnt mit den Armen zu rudern, wirft dann die Zigarette in hohem Bogen auf den zugefrorenen Boden. Der Schiedsrichter geht vom Platz, die Trainer zu ihren Mannschaften.

So eine Scheiße, denkst du, so eine Scheiße, jetzt hast du die ganze Zeit abgewartet und nun passiert nichts und die ganze Warterei war umsonst und du hättest dich eigentlich noch eine Runde schlafen legen können, denkst du, oder etwas ordentliches Essen können und hättest nicht im Auto herumsitzen müssen und hättest nicht deine Zeit verschwendet oder vielleicht einen besseren Weg gefunden, deine Zeit zu verschwenden.

Eine Gruppe Irokesenfrisuren schlendert gleichmütig an dir vorbei. Du fragst.

Kein Spiel heute?

- Nee, der Boden is gefroren. Zu gefährlich.

Ahso.

Dann gehst du zurück zum Auto.

Couch - Alle Auf Pause

Mittwoch, Dezember 31, 2008

Guten Rutsch!

rutsch

Schlechte Witze müssen auch gemacht werden. Bei meinem Silvesterglück gehe ich davon aus, dass eine fehlgeleitete Rakete in wenigen Stunden die halbe Stadt niederbrennt und ich das dann fotografieren darf. Silvester, bäh!

Dienstag, November 18, 2008

Zurück zum Glück

Zurück zum Glück ist mein Notebook, was vor geraumer Zeit nur noch Schwarzschirm zeigen und ganz schrecklich fiepen konnte, weil die Grafikkarte nicht mehr wollte. Nun haben führende Notebookchirurgen passende Spenderkarten gefunden und diese - sogar auf Garantie - transplantiert. Hurra!

Zum Glück zurück will auch ich und deshalb soll es hier an dieser Stelle nun auch langsam weitergehen.

South - Keep Close

Montag, Oktober 13, 2008

Mankind Is No Island

Wollte ich ja erst in die Links kloppen, entschied dann anders.

(via)