Stillleben (Teil I)
Es wird der Morgen des 27. Dezember sein, an dem ich auf der rechten Seite der Rückbank der Familienlimousine Platz nehme und meine Kopfhörer aufsetze um die drei Stunden Fahrt in den Norden einigermaßen zu überstehen.
Der 27. Dezember kündet mit wenigen Plusgraden, die von schneidendem Wind in arktische Kälte verwandelt werden, von einem frostigen Winter. Ich bin überrascht, dass es schon früh tagt, weiß aber noch nicht, dass der 27. Dezember überhaupt nicht vor hat, diesen Zustand der Dämmerung jemals zu verlassen.
Der Mund ist offen, Mutter schläft. Vaters Fuß liegt schwer auf dem Gas, Geschwindigkeit jenseits 160, linke Spur. Mir gehört die Musik, das verschmiert-beschlagene Fenster zu meiner Rechten und die einhundert Meter Welt dahinter. Dichter Nebel lässt Landschaften verschwinden und es bleiben die Autobahn, die Leitplanke und der Grünstreifen mit seinen knochigen Bäumen als der kleine Korridor Realität, für den ich in diesem Moment so dankbar bin. Vater deutet wortlos aus dem Fenster. Schnee.
Im Norden wohnen meine Großeltern. Der Wagen muss wie ein Fremdkörper wirken, als er leise durch die Stadt gleitet, deren größte Sehenswürdigkeit das deutsche Panzermuseum ist. Tatsächlich scheint der Ort selbst wie ein Museum. Baustil der 50er Jahre, kleine Häuser, sozialistisch anmutende Wohnblocks, bröckelnder Putz, freiliegendes Mauerwerk, alle Schattierungen von Braun und Grau. Ich muss an Modelleisenbahnen denken. Jene, die man nach Jahrzehnten auf dem Dachboden noch einmal vom Staub befreien will, dann aber aufgeben muss mit der Erkenntnis, dass sich dieser graue Schmutzfilm nie wieder lösen wird.
Hier ist nicht H0. Auf der Tür eines Stromverteilerkastens hockt ein von Kinderhand gemaltes Eichhörnchen, dessen verblichene Farben noch ein breites Grinsen und ein mittlerweile nur noch zur Hälfte vorhandenes, in den Händen gehaltenes Ortseingangsschild zeigen. Das Kunstwerk auf dem nächsten Kasten scheint jüngeren Datums. Schwarzer Edding auf Hartplastik, ein Kreuz und ein Grab, darin das gleiche Schild von eben: Munster. Zwischen gleichförmigen Häusern schließlich jenes mit der Nummer 13.
Großvater öffnet in Unterhose. Natürlich oliv, die Unterhose, so wie alle Kleidungsstücke. Bundeswehr. Im Kopf ist er da immer noch. Ich habe ihn seit bestimmt sechs Jahren nicht mehr gesehen, davor vielleicht alle zwei Jahre einmal. Als Kind war ich zusammen mit meiner Schwester für eine Woche bei ihnen, meinen Großeltern, und das ist im Grunde genommen schon alles. Meine Eltern haben auch erst seit kurzem wieder regelmäßigen Kontakt mit ihnen, nach den Schlaganfällen. Erst Sie, dann er. Weil sie jetzt im Heim lebt, muss er umziehen, wegen der Miete, die viel zu hoch ist. Darum sind wir hier. Planung.
Kurze Zeit später ist Großvater angezogen. Dreckige, olivgrüne Hose und der farbliche passende Bundeswehrstrickpullover mit Lederflicken an Ärmeln und Schultern. Er scheint so viel kleiner und dünner, als ich ihn erinnere. Das einst schwarze Haar ist nun grau und so kurz geschnitten, dass die Kopfhaut durchscheint. Tiefe Falten durchziehen sein Gesicht und es bleibt die schwarze Hornbrille als einzige Erinnerung, wer dieser Mann einmal war.
Wir sitzen im Wohnzimmer. Hier hat sich nichts geändert. Alles ist so, wie bei meinem letzten Besuch. Das mag nun zehn Jahre her sein. Großmutters Dinge liegen unbewegt herum. Auf dem Tisch steht der Verpackungszylinder einer Whiskeyflasche von schottischer Herkunft. Ich versinke in durchgesessenen Polstern und Vater überreicht die Weihnachtsgeschenke. Der Pyjama bleibt eingepackt, doch beim Kümmel grinst Großvater breit, greift dann in den Aschenbecher und zündet den Zigarillostummel ein weiteres Mal an, von dessen Existenz bereits stechender Geruch im Flur zeugte.
Es geht schnell voran, Vater fragt nach Maßen und Menge der zu transportierenden Möbel, notiert das Gesagte in sauber angelegten Listen. Es geht nicht so leicht, das mit dem Sprechen. Mutter wärmt mitgebrachte Suppe auf und die Suche nach passenden Tellern dauert lang, weil Großvater den Platz für das Porzellan nicht kennt. Schließlich dampft aus schwarzen Näpfen. Ich schlürfe gierig meine Suppe, weil sie den Geruch von Zigarillos milder scheinen lässt und genieße die wärme, denn Dezemberkälte hat sich in alle Zimmer geschlichen.
Nach dem Essen gehen wir durch alle Zimmer. Mengen abschätzen. Tatsächlich ist die Zeit spurlos an diesem Ort vorbeigegangen. Alles ist so, wie ich es erinnere. Im Flur die Bundeswehrdevotionalien, darunter das Bild Großvaters im Tarnanzug, Befehle erteilend. Neben der Haustür hängt noch immer die Sammlung von Hundeleinen. Die waren für Ben. Ben ist schon lange tot.
In Großvaters Arbeitszimmer hängen Köpfe verschiedener Tiere, die er als Jäger und Angler erlegte. Darunter auch der Hecht, der mir als Kind schlimme Albträume bereitete. Als ich dem Hecht Aug in Aug gegenüberstehe, tritt Großvater heran und sagt, dass er noch gut wisse, wie ich Angst vor dem glubschäugigen Fischkopf hatte. Es ist das erste Mal, das er direkt mit mir spricht.
Durch die ganze Wohnung begleiten uns die gelben Tapeten. Dunkelweiß wäre wohl die treffende Umschreibung, denn weiß waren sie einmal. Jahrzehnte voller Nikotin und ohne Renovierung lassen mich davor schaudern, die Wand mit den Fingern zu berühren.
Zurück im Wohnzimmer berichtet Vater, als er mit notieren fertig ist, von den Unstimmigkeiten unter den Geschwistern. Dabei geht es um Geld, denn noch ist nicht sicher, wie Großmutters Heimaufenthalt wirklich bezahlt werden soll. Es trifft. Ungewollt, aber es trifft. Zum ersten Mal höre ich Großvater jenseits des sonst eher barschen Tonfalls. Es ist ihm alles sehr peinlich.
Seidenmatt - Thuwe Pt.2