Mittwoch, Januar 31, 2007

Stillleben (Teil I)

Es wird der Morgen des 27. Dezember sein, an dem ich auf der rechten Seite der Rückbank der Familienlimousine Platz nehme und meine Kopfhörer aufsetze um die drei Stunden Fahrt in den Norden einigermaßen zu überstehen.

Der 27. Dezember kündet mit wenigen Plusgraden, die von schneidendem Wind in arktische Kälte verwandelt werden, von einem frostigen Winter. Ich bin überrascht, dass es schon früh tagt, weiß aber noch nicht, dass der 27. Dezember überhaupt nicht vor hat, diesen Zustand der Dämmerung jemals zu verlassen.

Der Mund ist offen, Mutter schläft. Vaters Fuß liegt schwer auf dem Gas, Geschwindigkeit jenseits 160, linke Spur. Mir gehört die Musik, das verschmiert-beschlagene Fenster zu meiner Rechten und die einhundert Meter Welt dahinter. Dichter Nebel lässt Landschaften verschwinden und es bleiben die Autobahn, die Leitplanke und der Grünstreifen mit seinen knochigen Bäumen als der kleine Korridor Realität, für den ich in diesem Moment so dankbar bin. Vater deutet wortlos aus dem Fenster. Schnee.

Im Norden wohnen meine Großeltern. Der Wagen muss wie ein Fremdkörper wirken, als er leise durch die Stadt gleitet, deren größte Sehenswürdigkeit das deutsche Panzermuseum ist. Tatsächlich scheint der Ort selbst wie ein Museum. Baustil der 50er Jahre, kleine Häuser, sozialistisch anmutende Wohnblocks, bröckelnder Putz, freiliegendes Mauerwerk, alle Schattierungen von Braun und Grau. Ich muss an Modelleisenbahnen denken. Jene, die man nach Jahrzehnten auf dem Dachboden noch einmal vom Staub befreien will, dann aber aufgeben muss mit der Erkenntnis, dass sich dieser graue Schmutzfilm nie wieder lösen wird.

Hier ist nicht H0. Auf der Tür eines Stromverteilerkastens hockt ein von Kinderhand gemaltes Eichhörnchen, dessen verblichene Farben noch ein breites Grinsen und ein mittlerweile nur noch zur Hälfte vorhandenes, in den Händen gehaltenes Ortseingangsschild zeigen. Das Kunstwerk auf dem nächsten Kasten scheint jüngeren Datums. Schwarzer Edding auf Hartplastik, ein Kreuz und ein Grab, darin das gleiche Schild von eben: Munster. Zwischen gleichförmigen Häusern schließlich jenes mit der Nummer 13.


Großvater öffnet in Unterhose. Natürlich oliv, die Unterhose, so wie alle Kleidungsstücke. Bundeswehr. Im Kopf ist er da immer noch. Ich habe ihn seit bestimmt sechs Jahren nicht mehr gesehen, davor vielleicht alle zwei Jahre einmal. Als Kind war ich zusammen mit meiner Schwester für eine Woche bei ihnen, meinen Großeltern, und das ist im Grunde genommen schon alles. Meine Eltern haben auch erst seit kurzem wieder regelmäßigen Kontakt mit ihnen, nach den Schlaganfällen. Erst Sie, dann er. Weil sie jetzt im Heim lebt, muss er umziehen, wegen der Miete, die viel zu hoch ist. Darum sind wir hier. Planung.

Kurze Zeit später ist Großvater angezogen. Dreckige, olivgrüne Hose und der farbliche passende Bundeswehrstrickpullover mit Lederflicken an Ärmeln und Schultern. Er scheint so viel kleiner und dünner, als ich ihn erinnere. Das einst schwarze Haar ist nun grau und so kurz geschnitten, dass die Kopfhaut durchscheint. Tiefe Falten durchziehen sein Gesicht und es bleibt die schwarze Hornbrille als einzige Erinnerung, wer dieser Mann einmal war.


Wir sitzen im Wohnzimmer. Hier hat sich nichts geändert. Alles ist so, wie bei meinem letzten Besuch. Das mag nun zehn Jahre her sein. Großmutters Dinge liegen unbewegt herum. Auf dem Tisch steht der Verpackungszylinder einer Whiskeyflasche von schottischer Herkunft. Ich versinke in durchgesessenen Polstern und Vater überreicht die Weihnachtsgeschenke. Der Pyjama bleibt eingepackt, doch beim Kümmel grinst Großvater breit, greift dann in den Aschenbecher und zündet den Zigarillostummel ein weiteres Mal an, von dessen Existenz bereits stechender Geruch im Flur zeugte.

Es geht schnell voran, Vater fragt nach Maßen und Menge der zu transportierenden Möbel, notiert das Gesagte in sauber angelegten Listen. Es geht nicht so leicht, das mit dem Sprechen. Mutter wärmt mitgebrachte Suppe auf und die Suche nach passenden Tellern dauert lang, weil Großvater den Platz für das Porzellan nicht kennt. Schließlich dampft aus schwarzen Näpfen. Ich schlürfe gierig meine Suppe, weil sie den Geruch von Zigarillos milder scheinen lässt und genieße die wärme, denn Dezemberkälte hat sich in alle Zimmer geschlichen.

Nach dem Essen gehen wir durch alle Zimmer. Mengen abschätzen. Tatsächlich ist die Zeit spurlos an diesem Ort vorbeigegangen. Alles ist so, wie ich es erinnere. Im Flur die Bundeswehrdevotionalien, darunter das Bild Großvaters im Tarnanzug, Befehle erteilend. Neben der Haustür hängt noch immer die Sammlung von Hundeleinen. Die waren für Ben. Ben ist schon lange tot.

In Großvaters Arbeitszimmer hängen Köpfe verschiedener Tiere, die er als Jäger und Angler erlegte. Darunter auch der Hecht, der mir als Kind schlimme Albträume bereitete. Als ich dem Hecht Aug in Aug gegenüberstehe, tritt Großvater heran und sagt, dass er noch gut wisse, wie ich Angst vor dem glubschäugigen Fischkopf hatte. Es ist das erste Mal, das er direkt mit mir spricht.


Durch die ganze Wohnung begleiten uns die gelben Tapeten. Dunkelweiß wäre wohl die treffende Umschreibung, denn weiß waren sie einmal. Jahrzehnte voller Nikotin und ohne Renovierung lassen mich davor schaudern, die Wand mit den Fingern zu berühren.

Zurück im Wohnzimmer berichtet Vater, als er mit notieren fertig ist, von den Unstimmigkeiten unter den Geschwistern. Dabei geht es um Geld, denn noch ist nicht sicher, wie Großmutters Heimaufenthalt wirklich bezahlt werden soll. Es trifft. Ungewollt, aber es trifft. Zum ersten Mal höre ich Großvater jenseits des sonst eher barschen Tonfalls. Es ist ihm alles sehr peinlich.

Seidenmatt - Thuwe Pt.2

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Rufen Sie die Hundertschaften zurück in die Kasernen, sperren Sie die Hunde in die Zwinger und ziehen sie die verfluchten Helikopter ab. Weder liege ich in irgendeinem See, noch halbverscharrt in ostsibirischem Permafrostboden. Sagen Sie das dem Einsatzleiter.

In der Tat geht es sogar beizeiten gut, sofern man das von sich behaupten kann. Das junge Jahr bot bislang wenig Grund zu enormer Freude und wird sich noch gewaltig anstrengen müssen, wenn es vorhat, in späteren Rückblenden je Beachtung zu finden.

Hier wird gelegentlich also wieder geschrieben, vom Alten und vom Neuen. Manchmal geht es weiter, weil es weitergehen muss.

Und wo wir gerade schon feststellen, dass Reanimationen eine ganz feine Sache sind, nun aus Tradition ein famoses Video, was sich eben damit beschäftigt. Noch dazu mit momentanem Lieblingslied untermalt, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Capulet - No Time Spoke The Clocks

Dienstag, Januar 30, 2007

Kapitel VI: Inferno

„Eeeeey!“ Es kling beschissen, wenn ich schreie. Warum will ich überhaupt eingreifen? Ich will nicht kämpfen. Ich kann nicht einmal kämpfen. Geprügelt hab ich mich noch nie, also nichts, was über das energische Festhalten der Extremitäten hinausgehen würde. Trotzdem schreie ich, weil Johannes auf dem Boden liegt, weil er sich mit dem Schwarzhaarigen wohl den Falschen ausgesucht hat, weil uns etwas verbindet, was, wenn schon keine Freundschaft mehr, doch wenigstens eine gemeinsame Vergangenheit ist. Eine gute Vergangenheit, im Groben und Ganzen. Das ist mehr, als ich über viele andere Menschen sagen kann. Das ist mehr, als ich mir in diesem Moment eingestehen möchte. Aber das ist vielleicht auch ein Grund zu kämpfen.

Meine Stimmbänder nehmen mir die Entscheidung ab. Meine Beine tun den nächsten Schritt. Heraus aus dem Halbkreis der Kneipengänger, die ihre Zuschauerrolle voll ausfüllen. Mich ekelt die Faszination in ihren Augen, die Münder bereit zur Anfeuerung. Sogar der neue Wirt ist hinter der Bar hervorgekommen und freut sich auf ein Spektakel. Was für ein Ort. Es bleibt bei einem Schritt, dann werden meine Arme von Hinten gegriffen und auf den Rücken gedreht.

„Nee, du bleibst hier!“
Ein grobschlächtiger Brocken, der vor einer Sekunde noch neben mir stand, nimmt mich nun in den Schwitzkasten.
„Einer gegen Einen. Kapiert?“
Ein merkwürdiges Verständnis von Fairness, doch mir bleibt keine Zeit, mich zu wundern, denn ich muss mit Entsetzen feststellen, dass der Breitschultrige von Johannes ablässt und sich mir zuwendet. Immerhin ein Teilerfolg. Ich versuche dem Griff des Brockens zu entrinnen, doch er packt mich nur noch stärker. Johannes Gegner scheint nun meiner zu werden, denn ich genieße nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Während er näher kommt, versuche ich weiter, mich aus den baumdicken Armen meines Hintermannes zu winden. Zwecklos. Wo sind Zeitlupeneffekte, wenn man sie braucht?

„Wolltest von hinten an mich ran, hä?“
Er tritt näher an mich heran. Sein Atem stinkt nach Alkohol und Zigaretten. Ich wende den Kopf ab.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
Es widert mich an. Dennoch schaue ich ihm in seine verquollenen Augen. Meine Arme und Beine kribbeln. Mein Magen möchte seinen Inhalt möglichst schnell loswerden. Am Besten nach oben. Ich habe Angst.

Die Faust trifft wie eine Dampframme. Dabei verfehlt sie nur knapp das Brustbein, trifft stattdessen in den Bauch. Ich sacke zusammen. Der Brocken lässt mich endlich los. Es tut nicht weh. Ich kann nicht mehr Atmen. Mein Magen gibt nun endgültig auf und vor meinen Augen bildet sich ein kleiner See aus Erbrochenem. Jetzt tut es weh. Viel schlimmer ist aber das Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit. Tränen schießen in meine Augen.

Ich schaue kurz nach oben und erkenne erleichtert, dass sich Mann und Faust wieder um Johannes kümmern wollen. Erleichtert? Johannes! Ich versuche aufzustehen, aber meine Knie geben nach und ich lande mit dem Gesicht in meiner eigenen Kotze. Vom Boden aus kann ich sehen, wie der Mann stehen geblieben ist. Dann ist da noch ein zweites Paar Beine. Johannes!

Er hat sich aufgerappelt und steht wieder in dieser seltsamen Bruce Lee Pose herum, wie er das eben schon tat. Aus einer Platzwunde über der Augenbraue sickert dunkles Blut über sein Gesicht. Er hat diesen wilden, entschlossenen Blick in den Augen, den ich noch von früher kenne. Das war immer der letzte Blick, bevor er die Kontrolle verlor. „Unruhe“, nannte es die schrullige Kinderpsychologin, zu der Johannes alle zwei Wochen gehen musste um sich an Schaumstoffklötzen abzureagieren und dämliche Bilder zu malen. Irgendwann hat er dann die Schaumstoffklötze gegen Sandsäcke eingetauscht und…

Als er Anlauf nimmt, weiß ich, dass es nicht gut um meinen Peiniger bestellt ist. Dreizehn Jahre Kickboxen stecken in dem Bein, das ihn nun mit voller Wucht unter dem Kinn erwischt. Knack. Als sein Kiefer bricht, seufzt der Mann laut auf, bevor er wie ein verwundetes Tier versucht, sich auf Johannes zu stürzen. Der weicht aus und lässt sein gestrecktes rechtes Bein von hinten in die Kniekehlen des nun taumelnden Mannes stoßen, worauf dieser zusammenbricht.

Das Publikum scheint über die Wendung des Kampfes begeistert und Stimmen rufen Johannes zu, dass er den „Alten“ jetzt „kaltmachen“ solle und all so etwas. Wie der „Alte“ wieder auf die Beine gekommen ist, vermag ich nicht zu sagen, aber das er Schmerzen hat, sieht man ihm an. Wirren Blickes sucht er sein Heil in einem weiteren Angriff. Die Faust trifft wieder nur Luft und Johannes nutzt den ausgestreckten Arm als Hebel für einen Schulterwurf. Der schwere Körper klatscht laut auf den Fliesenboden. Johannes ist sofort über ihm und zieht ihn wieder hoch.

„Komm doch, komm doch! Mach doch! Schlag doch! Komm Opa!“
Ich weiß nicht, was Johannes da tut, ich weiß nur, dass ich ihn davon abhalten muss, eine größere Dummheit zu begehen. Der Mann kniet vor ihm und blickt durch gebrochene Augen ins Leere. Meine Beine wollen mich endlich wieder tragen. Langsam taumle ich auf die Beiden zu.
„Hey!“
Ich hebe die Hand und für einen Wimpernschlag trifft mein Blick den von Johannes. Ich kann nicht sagen, ob er mich überhaupt erkennt. Im nächsten Moment werde ich von zwei Bärenpranken zurückgerissen.

„Einer gegen Einen!“ Grunzt eine Stimme. Dann werde ich nach hinten geschleudert und schlage hart gegen einen Tisch. Noch einmal rapple ich mich auf und versuche, mich auf Johannes zuzubewegen. Wieder werde ich von Bärenpranken durch den Raum geworfen. Diesmal mit Nachdruck.
„Du verschwindest jetzt besser. Oder ich lass dich verschwinden.“

„Mach das nicht!“
Ich rufe laut, aber meine Worte gehen im Lärm der Stimmen unter, die alle das Gegenteil fordern. In meinem Kopf brennt es. Ich renne hinaus.

Ich zittere am ganzen Körper, als ich Minuten später hinter den beiden Securitygorillas das Gebäude wieder betrete. Mir wird übel bei dem Gedanken an den Verrat, den ich gerade begehe. Zurück am Ort des Geschehens kann ich meinen Brechreiz nur schwer unterdrücken. Ich komme zu spät. Johannes sitzt auf der Brust des Mannes, von dessen Gesicht nicht viel mehr als eine teigige Masse übrig ist. Um ihn herum ist alles voller Blut, aus dem nur teilweise kleine weiße Stückchen hervorragen. Zähne.

Es ist sehr still geworden. Niemand schreit, niemand feuert mehr an, niemand redet. Der blutende Mann wimmert leise. Johannes rührt sich nicht. Er sitzt einfach nur da und… ja, er weint. Als die beiden Gorillas an ihn herantreten lässt er sich widerstandslos von ihnen durchsuchen. Handschellen klicken. Der Wirt beteuert auf Nachfrage von einem Gorilla, dass er schon einen Krankenwagen gerufen habe. Wir gehen nach draußen.

Hier sind wir nun also. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt jemals Freunde waren, aber es ist die gemeinsame Geschichte, die uns immer noch verbindet. Oder verbunden hat? Wann ist Freundschaft zu Ende? Ab wann hört man auf, einen Menschen zu mögen? Ab wann darf man aufhören?

„Kann ich noch eine rauchen, bevor es losgeht?“
Ich weiß es nicht.